So still die Nacht
Zigeuner.« Lucinda spähte zum Himmel empor und berührte mit ihrer behandschuhten Hand ihren Samtkragen. »Es ist schon spät. Der Friedhof schließt bei Sonnenuntergang.«
»Wenn wir hier auch nur einen Moment länger bleiben, werde ich diejenige sein, die als Nächstes dahinscheidet«, murrte Astrid säuerlich.
»Ich stimme ihr zu«, befand Evangeline.
»Bitte.« Mina hob ihr Taschentuch an die Nase und schniefte, spielte eine Rolle, so wie sie es in den wenigen Tagen von ihren Cousinen gelernt hatte. Dann flüsterte sie: »Ich bin einfach noch nicht bereit, mich für immer von ihm zu verabschieden.«
»Oh, Liebes, weinen Sie nicht«, flehte ihre Tante und rang die Hände. »Also schön. Sie können ja mit Trafford zusammen zum Gasthof fahren. Bitte, bleiben Sie nicht zu lange. Vergessen Sie nicht, wir werden heute Abend in unser Haus in Mayfair zurückkehren, und zwar in unserer eigenen Kutsche.« Sie zog eine Uhr aus ihrer Tasche und seufzte. »Außerdem haben wir morgen eine Reihe von Terminen. Mit dem Lebensmittellieferanten und dem Floristen wegen meines Gartenfests nächste Woche. Wir möchten morgen früh nicht erschöpft sein.«
Einen Moment später rollte die Kutsche auf die Swain’s Lane. Mina folgte dem von Bäumen überschatteten Pfad. Sie kannte den Weg, weil am Tag zuvor ihr Onkel ihr die Stelle gezeigt hatte, an der der Sarg ihres Vaters beigesetzt werden sollte. Nur dass da die Sonne hoch am Himmel gestanden hatte und der Friedhof voller Besucher gewesen war. Jetzt senkten sich abendliche Schatten auf die Erde, und Schwaden gelben Nebels waberten über den Erdboden.
Nur das Knirschen ihrer Schuhe auf dem Weg und das verstohlene Scharren von Vögeln und anderen unsichtbaren Kreaturen in den Bäumen und im Unterholz waren in der Stille zu hören. Ein klagender Steinengel schien sie mit geöffneten Händen von ihrem Weg abhalten zu wollen. Ihr Puls raste, aber sie unterdrückte, was ganz gewiss unvernünftige Ängste waren – Ängste, die verfliegen würden, sobald sie sich sicher sein konnte, dass der Sarg ihres Vaters seine letzte Ruhestätte erreicht hatte.
An den offenen Eisentoren der ägyptischen Allee zauderte Mina. Gewaltige Zwillingssäulen und Obelisken standen zu beiden Seiten des überwölbten Eingangs wie ein Portal zu einem altertümlichen Tempel. Ein dichter Schleier aus Efeu hing von oben herab, und dahinter … nur Schatten.
Ihr erster Impuls war, zurückzuweichen, so schnell ihre Füße sie tragen konnten, zurück zu der Kutsche und zu allem, was ihr Sicherheit bot, Normalität und geistige Gesundheit. Sie atmete tief ein und verbannte alle ängstlichen Gedanken. Schon bald hatte sie den Libanonplatz erreicht, wo die kreisförmig angeordneten Mausoleen von Zedernästen umspielt wurden.
Der Sarg ihres Vaters sollte neben dem ihrer Mutter in den Katakomben beigesetzt werden. Mina raffte ihre Röcke und stieg die breiten Steinstufen hinauf.
Eine Brise wiegte die Zweige der Bäume um sie herum und füllte den Kreis mit einem Chor unverständlicher Wisperlaute. Mina wirbelte herum und ließ den Blick über den Platz wandern, überzeugt, Stimmen über dem Rascheln der Bäume zu hören.
Das Gewisper verstummte. Stattdessen erklangen einzelne metallische Laute: Pling! Pling! Pling!
Argwohn und Furcht schnürten ihr die Kehle zu, engten ihr die Brust ein. Sie kämpfte gegen die Angst an. Das metallische Klingen verursachten wahrscheinlich die Friedhofsarbeiter, die gerade ihr Tagewerk beendeten.
Pling! Die Stelle an ihrer Lippe, wo sie in ihr Fleisch biss, pochte. Welche Arbeit konnte solch monotone und beharrliche Schläge erfordern? Wachsam näherte sie sich der Katakombe, wo der Sarg ihres Vaters inzwischen beigesetzt sein sollte. In der eisernen Tür befand sich eine kleine quadratische Öffnung mit Gitterstäben.
Aus der Katakombe war jetzt ein Schlurfen zu hören.
Pling!
Die Furcht, ihr Geheimnis könnte enthüllt werden, überstieg die Angst vor dem Unbekannten, das in der Katakombe dieses metallische Klingen verursachte. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und zog sich an den Gitterstäben hoch. In der Dunkelheit nahm sie die schwachen Umrisse zahlreicher Särge wahr, die auf Regalen standen und von einer dicken Staubschicht bedeckt waren. Die Blumen, die sie gestern auf den Sarg ihrer Mutter gelegt hatte, waren achtlos zu Boden geworfen worden.
Ein Schatten bewegte sich.
»He, Sie da!«, rief sie. Der Schatten verschmolz mit der Dunkelheit, und sie zweifelte,
Weitere Kostenlose Bücher