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So still die Nacht

So still die Nacht

Titel: So still die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Lenox
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verschwundene, uralte Keilschrifttafel geblieben waren. Die Tafel verzeichnete die dunkle Geschichte und die noch dunkleren Prophezeiungen der Tantalyten – Anhänger eines alten Kults der Unterwelt, der dem verderbten, unsterblichen Tantalos huldigte, dem dunklen Alten, der von den Schattenwächtern für immer ins Schattenreich des Tartaros verbannt worden war.
    Ohne die Tafel waren Mark, seine Zwillingsschwester Selene und Lord Black gezwungen gewesen, sich mit einem schlechten Duplikat zu begnügen – einer alten, bruchstückhaften Schriftrolle. Mark, ein Experte archaischer Sprachen, hatte den Auftrag bekommen, das Relikt zu übersetzen.
    Die Schriftrolle bewahrte die Geschichte und die Prophezeiungen dieses Kults der Unterwelt. Der Papyrus enthielt außerdem eine Reihe von numerischen Koordinaten, die, nachdem sie decodiert waren, mit allen möglichen schrecklichen Ereignissen im Lauf der Geschichte übereinstimmten und bis in die Gegenwart hineinreichten. Morde. Seuchen. Plagen. Naturkatastrophen. Und jüngst im Jahr 1883 der heftige Ausbruch des indonesischen Vulkans Krakatau.
    Diese Ereignisse ermöglichten es dem Tantalos, mithilfe unsichtbarer Energieströme aus seiner immerwährenden Gefangenschaft im Schattenreich mit seiner schlafenden Armee der Brotoi Kontakt aufzunehmen und sie wiederzuerwecken. Durch Beobachtung hatten die Schattenwächter ermittelt, dass zu den Brotoi fast ausnahmslos die bösen, gefallenen Seelen gehörten, die zu töten die Schattenwächter ohnehin beauftragt waren.
    Doch anders als transzendierende Seelen, die nach Abgeschiedenheit suchten, um ihre schändlichen Taten auszuführen, zeigten die Brotoi eine bedauerliche Neigung, sich zusammenzurotten und zu organisieren, um jede Zivilisation zu zerstören – nicht nur die der Sterblichen, sondern auch die der Amaranthiner und ihres geschützten Paradieses, des Inneren Reichs.
    Aber am wichtigsten war für Mark jetzt, dass die Schriftrolle am Ende die Existenz von zwei weiteren Schriftrollen erwähnte, die Einzelheiten über den Ort und die Verwendung eines mächtigen Verbindungskanals der Unsterblichkeit enthielten. Dieser noch nicht identifizierte Verbindungskanal war seine einzige Hoffnung, den dunklen Prozess der Transzendierung umzukehren, der gegenwärtig in seinem Geist am Werk war.
    Je eher es ihm gelang, Miss Limpett dazu zu überreden, den Aufenthaltsort ihres Vaters und der Schriftrollen zu verraten, desto eher konnte er wieder Herr seines aus den Fugen geratenen Schicksals werden und einen Ehrenplatz unter den amaranthinischen Schattenwächtern gewinnen.
    Bei der Erinnerung an ihre Augen, ihre Lippen und ihr eng anliegendes, schlichtes Trauerkleid bereute er, dass keine Zeit für eine sanfte Verführung blieb.
    Eine warme Brise wehte durch das offene Fenster der Trafford’schen Kutsche und ließ die Vorhänge hin- und herflattern wie die Flügel eines großen Nachtfalters. Das gedämpfte Licht im Inneren, die luxuriöse Ausstattung, das gleichmäßige Schaukeln der Kutsche auf der Straße und die Erschöpfung in den letzten Monaten …
    Evangeline fiel der Kopf auf Minas Schulter. Ein leises Schnarchen entwich ihren Lippen.
    Mina wünschte, sie könnte ebenso in einen tiefen Schlaf fallen. Sie war so müde. Sie hatte gehofft, die Beerdigung würde der Flucht, dem Verstecken und der Angst ein Ende machen. Und dass sie heute Nacht endlich friedlich schlafen konnte.
    Astrid saß zu Evangelines anderer Seite. Ihr gegenüber runzelte Lady Trafford die Stirn, anscheinend in ihre eigenen Gedanken versunken, und neben seiner Frau starrte Lord Trafford aus dem einzigen offenen Fenster. Mina war ihrem Onkel so dankbar gewesen, als er den Fensterriegel geöffnet hatte und sich die schwindelerregende Mischung aus Parfüm zerstreut, die sich im beengten Innenraum der Kutsche gestaut hatte.
    Sie für ihren Teil saß steif auf ihrem Sitz und versuchte, alles vernünftig zu erklären, was sie in der Katakombe gesehen und gehört hatte. Es war natürlich so, wie Lord Trafford es angedeutet hatte. Sie war überreizt gewesen und hatte sich Dinge eingebildet.
    Die glühenden Augen hatten gewiss einer monströs großen Friedhofsratte gehört. Der Stein, der die Tür getroffen hatte – offensichtlich hatte er sich aus der Decke der alten und verfallenden Katakombe gelöst und war herabgestürzt, vielleicht weil sie am Türgriff geruckelt hatte. Die merkwürdigen Geräusche hatte wahrscheinlich ebenso die große Friedhofsratte verursacht

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