So will ich schweigen
Uhr, während er seiner Mutter eine Kaffeetasse aus der Hand nahm. »Ich werde mal …« Er brach ab, als sein Handy trillerte, zog es aus der Gürteltasche und klappte es ungeduldig auf.
»Ronnie«, sagte er. »Kann ich dich zurückrufen …?«
Gemma hörte Ronnie Babcocks Stimme, die schwach und blechern aus dem Lautsprecher des Telefons drang, und dann sah sie, wie Kincaids Züge erstarrten und seine Augen sich vor Schreck weiteten. Sie stand da, die Hände um die Tischkante geklammert, und ihr Herz krampfte sich zusammen. »Kit …«
Kincaid schüttelte den Kopf und hob die Hand, während er weiter konzentriert zuhörte. »Ich bin in fünf Minuten da«, sagte er schließlich und beendete das Gespräch. »Kit geht es gut«, beruhigte er sie. »Aber er hat eine Leiche gefunden. Annie Lebow, die Frau, die wir auf ihrem Kanalboot besucht haben. Sie wurde ermordet.«
»O Gott.« Gemma sah die Bestürzung in seiner Miene, und sie empfand Mitleid mit ihm, während sie sich zugleich große Sorgen um Kit machte. »Das ist ja furchtbar. Wo ist das passiert? Wo ist Kit?«
»Ronnie sagt, Kit hat sie auf dem Leinpfad neben ihrem Boot gefunden, gleich unterhalb von Barbridge. Dort ist Kit jetzt, in Barbridge.« Er war schon aufgesprungen und eilte in Richtung Tür, um seine Jacke zu holen. »Ich komme wieder, sobald …«
»Wag es ja nicht …« Gemma zitterte noch von dem Schreck, der ihr in die Glieder gefahren war, doch nun verdrängte die Wut ihre Angst. Seit ihrer Ankunft hatte er sie permanent in den Hintergrund gedrängt, hatte sie behandelt, als sei sie zu
nichts anderem fähig, als sich um die Kinder zu kümmern – und sie hatte ihn gewähren lassen, weil die neue Umgebung sie unsicher gemacht hatte. Aber jetzt war endgültig Schluss damit. »Denk ja nicht, du kannst mich hier schmoren lassen, als wäre ich dein kleines Heimchen am Herd«, fauchte sie. »Ich komme mit, und wehe, du verlierst auch nur ein Wort darüber.«
Kincaid glotzte sie mit offenem Mund an, als wäre sie ein Gespenst. Nach einer Weile blinzelte er und sagte: »Natürlich solltest du mitkommen. Ich bin ein Idiot. Es tut mir leid, Schatz. Passt du so lange auf Toby auf, Mama?«
»Natürlich«, antwortete Rosemary. »Fahrt nur. Wir kommen schon klar.« Ihr Gesicht war von Sorge gezeichnet; doch als Gemma sich mit einer raschen Umarmung bei ihr bedankte, ehe sie Kincaid nach draußen folgte, flüsterte Rosemary ihr noch ins Ohr: »Gut gemacht, Liebes.«
Juliet wachte langsam auf, das Licht bohrte sich in ihren Schädel wie ein Skalpell. Doch was sie sah, bevor sie die Augen wieder zukniff, war genug, um die Erinnerung schlagartig zurückzubringen. Sie wusste genau, wo sie war und was sie hier tat.
Sie lag auf dem völlig ausgeleierten alten Sofa im Arbeitszimmer ihres Vaters. Sie hatte gestern Abend viel zu viel Whisky getrunken. Sie hatte beschlossen, ihren Mann zu verlassen. Und neben ihr lag ihre Tochter und schlief fest. Das Sofa hing in der Mitte durch, und Lally war an sie herangerutscht, ein beruhigendes Gewicht an ihrer Hüfte.
Eine Welle der Übelkeit erfasste Juliet, und sie legte sich vorsichtig wieder auf den Rücken. In dieser Haltung verharrte sie reglos, atmete bewusst flach und schluckte, um den Druck in ihrer Kehle zu lindern. Nach einer Weile ließ das unangenehme Gefühl nach, und sie sank wieder in das wohlige Vergessen des Schlafs.
Als sie erneute aufwachte, war ihr Kopf schon klarer, wenngleich er immer noch höllisch wehtat und ihr Mund sich anfühlte wie die Sahara. Neben sich hörte sie Lallys leise, regelmäßige Atemzüge. Diesmal drehte sie sich ganz, ganz vorsichtig auf die Seite, ehe sie die Augen aufschlug und ins Gesicht ihrer schlafenden Tochter blickte.
Lally lag auf dem Rücken, die Bettdecke mit beiden Händen unters Kinn gezogen, und die dunklen Fächer ihrer Wimpern warfen Schatten auf ihre blassen Wangen. Schon als Kind hatte sie immer in dieser Haltung geschlafen, als müsse sie sich selbst in ihren Träumen noch schützen, während Sam mit Armen und Beinen gerudert hatte wie ein Schwimmer.
Mein Gott, dachte Juliet, wie lange ist es her, dass ich meiner Tochter zuletzt beim Schlafen zugesehen habe? Und wann war ihr kleines Mädchen eigentlich so schön geworden? Sie streckte die Hand aus und fuhr zart mit dem Finger die Rundung von Lallys Wange nach. Bei der Berührung begannen die Lider des Mädchens zu zucken, und für einen kurzen Moment formten sich ihre Lippen zu einem zufriedenen
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