So will ich schweigen
nicht auf, als Annie die Kabine betrat. Gabriel und Marie, das kleine Mädchen, waren hinter ihr auf der Treppe stehen geblieben, was Annies Unbehagen noch verstärkte.
»Hallo, Joe«, sagte sie. Er musste fast neun sein, dachte sie; ein hübscher, gut geratener Junge, der die gesundheitlichen Probleme, die ihn als Baby und bis ins Kindergartenalter hinein geplagt hatten, offenbar überwunden hatte.
Er war zwei Jahre alt gewesen, als seine Eltern ihn das erste Mal in das hiesige Krankenhaus gebracht hatten. Sie hatten dem behandelnden Arzt berichtet, der Junge leide an Anfällen, und seine Atmung habe schon mehrmals ausgesetzt.
Der Arzt hatte den Jungen untersucht und keine Anzeichen einer Epilepsie entdecken können. Er fand jedoch Blutergüsse an Armen und Beinen, die von einem heftigen Anfall herrühren könnten.
Im Lauf der nächsten Monate brachten die Wains Joseph immer wieder ins Krankenhaus, doch der Befund blieb nach wie vor unklar. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten die Wains ein Nomadenleben geführt, doch wegen des schlechten Gesundheitszustands ihres Sohnes hatte Gabriel sich in der Nähe von Nantwich eine vorübergehende Beschäftigung gesucht. Auch
war Rowan wieder schwanger und machte eine schwere Zeit durch.
Frustriert und ungeübt im Umgang mit der Krankenhausbürokratie, war Gabriel Wain gegenüber Ärzten und Pflegepersonal zunehmend aggressiv geworden. Die Schiffer hatten schon immer ein gesundes Misstrauen gegenüber Krankenhäusern gehegt, und Gabriel selbst war eines der letzten Babys gewesen, die von Schwester Mary in Stoke Bruene am Grand Union Canal entbunden worden waren – der Krankenschwester, die ihr Leben dem Dienst an dem kleinen Völkchen der Kanalschiffer gewidmet hatte.
Als der Arzt den Eintrag des Jungen in der Kartei des staatlichen Gesundheitsdienstes aufrief, stellte er fest, dass die Wains nicht zum ersten Mal ärztliche Hilfe für ihren Sohn in Anspruch genommen hatten. Als Joseph noch kein Jahr alt gewesen war, hatten sie ihn in ein Krankenhaus in Manchester gebracht und gesagt, er behalte sein Essen nicht bei sich. Auch damals war keine Diagnose gestellt worden.
Der Argwohn des Arztes war geweckt, und nach einer ganz besonders heftigen Auseinandersetzung mit Gabriel hatte er Josephs Akte dem Jugendamt übergeben.
Sein beigefügter Bericht war vernichtend. Er glaubte, die Eltern hätten die Symptome nur erfunden und den Jungen möglicherweise misshandelt, um Aufmerksamkeit zu erregen. Seine offizielle Anschuldigung – Annie konnte sie nicht mehr als Diagnose bezeichnen – lautete auf MSS: Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom.
Annies Aufgabe als mit dem Fall betraute Sozialarbeiterin war es gewesen, den Behauptungen des Arztes nachzugehen.
»Du erinnerst dich wahrscheinlich nicht mehr an mich, Joe«, sagte sie jetzt, »aber ich habe dich gekannt, als du noch ganz klein warst.«
Joseph sah sie flüchtig an, nickte und schlug sofort die Augen
nieder. Aus der Röte, die ihm in die Wangen stieg, schloss Annie, dass er extrem schüchtern sein musste. Sie fragte sich, ob die Familie je lange genug an einem Ort geblieben war, um dem Jungen einen Schulbesuch zu ermöglichen.
»Deine Mama wollte mich …«, begann sie, als hinter ihr Gabriels Stimme ertönte.
»Da lang«, sagte er knapp und deutete auf den Gang, der zur Kombüse und den dahinter liegenden Schlafräumen führte. Er stieg die Stufen zur Kabine hinunter, mit Marie, die wie eine Klette an seinem Bein hing, und in dem kleinen Raum schien es plötzlich bedrohlich eng zu werden. Annie fürchtete sich ein wenig, doch im nächsten Moment fand sie ihre Angst schon lächerlich. Gabriel würde ihr nie etwas zuleide tun – schon gar nicht, wenn seine Frau und die Kinder dabei waren.
Sie folgte seinen Anweisungen und ging durch die sauber aufgeräumte Kombüse in die Kabine dahinter. Hier war der Vorhang ein Stück zurückgezogen, genug, um die Gestalt erkennen zu können, die auf Kissen gestützt in dem Kastenbett lag.
»Rowan!«, stieß Annie unwillkürlich hervor. Schon gestern hatte sie den Eindruck gehabt, dass die Frau krank aussehe, doch heute schien ihre Haut regelrecht grau, und selbst in der abgedunkelten Kabine war zu erkennen, dass ihre Lippen blau angelaufen waren.
Rowan Wain lächelte und begann mit sichtlicher Anstrengung zu sprechen. »Ich habe Ihre Stimme gehört.« Sie deutete mit dem Kopf auf das Fenster, das auf den Leinpfad hinausging. »Ich konnte Sie nicht einfach gehen lassen – Sie hätten
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