So will ich schweigen
gesehen, dass sie anfangs dazu geneigt hatte, dem Bericht unbesehen zu glauben – wofür sie sich heute schämte. Sie hatte zu viel Macht über das Schicksal von Menschen gehabt, um solche Entscheidungen auf die leichte Schulter nehmen zu können. Hätte ihr Urteil das der Ärzte bestätigt, dann wäre der Fall der Wains vor ein Zivilgericht gekommen. Und dort wäre das Paar, das nur über eine sehr dürftige Schulbildung verfügte und sich keinen Anwalt leisten konnte, der Staatsgewalt und den Aussagen ihrer so genannten Gutachter hilflos ausgeliefert gewesen. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wären Joseph und die kleine Marie in eine Pflegefamilie gekommen, und möglicherweise hätten ein oder beide Elternteile sich vor dem Strafrichter verantworten müssen.
Ihr erstes Gespräch mit den Wains hatte sie an Bord der Daphne geführt. Das Boot hatte ihr gleich gefallen, und sie war angenehm überrascht von Rowans schüchterner Gastfreundschaft. Die ersten leisen Zweifel waren ihr gekommen, als sie eine Mutter gesehen hatte, deren aufopfernde Sorge um ihren Sohn in keiner Weise darauf abzuzielen schien, die Aufmerksamkeit auf sich selbst zu lenken, und einen Vater, der ihr zwar recht schroff begegnete, zu dem kleinen Jungen aber stets liebevoll und zärtlich war. Damals schienen die plötzlichen Anfälle von Joseph und seine Magenprobleme vorüber zu sein, und seine Eltern wirkten unendlich erleichtert
Je öfter Annie die Eltern besuchte, je öfter sie beobachtete, wie sie mit ihrem Kind umgingen, desto mehr war sie davon überzeugt, dass die Anschuldigungen gegen sie ungerechtfertigt waren. Sie hatte sich letztlich auf ihren Instinkt verlassen, doch ehe sie beweisen konnte, dass die Wains und sie selbst recht hatten, waren monatelange Nachforschungen vonnöten. Sie musste zahllose Gespräche führen und Stapel von Arztberichten und Krankenhausunterlagen durchforsten.
Die unstete Lebensweise der Wains hatte den Prozess erheblich erschwert. Sie blieben immer nur kurze Zeit an einem Ort und hatten keine Angehörigen oder engen Bekannten, die ihre Angaben zur Krankheit des kleinen Joseph hätten bestätigen können. Aber in einem ihrer Gespräche hatte Rowan Annie von Josephs erstem Anfall erzählt.
Sie waren auf dem Grand Union Canal gewesen und hatten unterhalb von Birmingham neben einigen anderen Booten festgemacht. Gabriel war an Deck gewesen, Rowan in der Kabine bei dem schlafenden Kind, als Joseph sich urplötzlich verkrampfte, den Rücken durchbog und mit Armen und Beinen um sich zu schlagen begann. Dann wurde er mit einem Mal schlaff, und seine Haut lief blau an. Rowan hob ihn aus dem Bettchen und schüttelte ihn voller Panik, während sie nach Gabriel rief.
Gabe kam sofort die Treppe heruntergeeilt, bei ihm Charlie, ein stiller, schlaksiger junger Mann, der mit einem alten Motorboot – einem »Josher« – von Liegeplatz zu Liegeplatz tuckerte. Doch kaum hatte Charlie das leblose Kind in Rowans Armen erblickt, war seine Trägheit wie weggeblasen. »Sanitäter-Ausbildung«, sagte er nur. Er nahm Rowan den Jungen ab und legte ihn auf den Boden, und nachdem er sich vergewissert hatte, dass die Atemwege frei waren, blies er ihm Luft in die Lungen und drückte ihm anschließend die Hände auf die Brust. Einmal, zweimal, dreimal – dann durchzuckte
ein Krampf den kleinen Körper, und Joseph fing an zu schreien.
Charlie aber hatten sie nie wiedergesehen, und Rowan wusste nicht einmal, ob er immer noch auf dem Kanal unterwegs war.
Doch Annie war entschlossen, Beweise für Rowans Geschichte beizubringen, und ihre Suche nach dem geheimnisvollen Charlie sollte sich als ihre wahre Einführung in die Welt der Kanalschifffahrt erweisen. Anfangs war sie noch mit dem Wagen unterwegs gewesen, hatte sich von Cheshire aus immer weiter vorgearbeitet und schließlich ganz Mittelengland der Länge und der Breite nach durchquert. Sie hatte die Bootshäfen und Liegeplätze abgeklappert, die Geschäfte und Kneipen entlang der Kanäle aufgesucht, und sie hatte jeden gefragt, der mit den Wains Kontakt gehabt hatte und vielleicht wissen könnte, was aus Charlie geworden war.
Bald schon war ihr nicht nur klar geworden, dass sie sich eine nahezu unlösbare Aufgabe vorgenommen hatte, sondern auch, dass manche der Orte, an denen die Schiffer zusammenkamen, mit dem Auto schlicht nicht zu erreichen waren. Sie war schon der Verzweiflung nahe gewesen, als ihr ein Schiffer erzählte, dass er Charlie nicht nur kenne, sondern
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