Das Herz des Bösen: Roman (German Edition)
PROLOG
»Es war eine dunkle und stürmische Nacht«, zitierte Ellen den berüchtigten ersten Satz eines lange vergessenen Romans, der die zweifelhafte Ehre genoss, einmal zum schlechtesten Buchanfang aller Zeiten gewählt worden zu sein. So übel war er nun auch wieder nicht, fand Ellen und war sich ziemlich sicher, dass sie notfalls mit Schlimmerem aufwarten könnte, obwohl ihr früher erstaunliches Gedächtnis zugegebenermaßen auch nicht mehr das war, was es einmal gewesen war. Aber so ging es schließlich mit allem, dachte sie lachend.
Für eine Frau ihres Alters klang ihr Lachen erstaunlich jugendlich, eher ein teenagerhaftes Kichern als das einer Frau, die vor Kurzem ihren siebzigsten Geburtstag gefeiert hatte.
»Das kann man wohl sagen«, meinte Stuart Laufer, seit beinahe fünfzig Jahren ihr Ehemann. Er legte seine für einen fast Fünfundsiebzigjährigen erstaunlich muskulösen Arme um seine Frau, und gemeinsam starrten sie aus dem Fenster ihrer alten Blockhütte auf die Bäume, deren Äste von dem Furcht einflößenden Wind regelrecht zur Raserei gepeitscht wurden.
Seit fast fünf Stunden goss es in Strömen, kurz nach drei hatte der Dauerregen begonnen. Wie aus dem Nichts war eine bedrohliche Wand dunkler Wolken aufgezogen, die die blasse Sonne rasch verdeckt hatte. Beinahe unmittelbar danach waren große schwere Tropfen niedergeprasselt wie Kugeln aus einem himmlischen Maschinengewehr, bevor der Wind aufgefrischt war, begleitet von lautem Donner und wild zuckenden Blitzen, dann noch mehr Sturm, mehr Blitze, Kugelhagel. Wunderschön, hatte Ellen gestaunt, und gleichzeitig erschreckend, wie so häufig bei allem Schönen.
Ich war auch einmal schön, dachte sie.
»Das ist viel zu heftig, um lange zu dauern«, hatte Stuart sie beide zu beruhigen versucht. »Da hab ich mich wohl geirrt«, hatte er zugegeben, als der Nachmittag sich in den Abend gedehnt und von dem immer dunkler werdenden Himmel verschluckt worden war. Die Lampen in der kleinen Hütte begannen zu flackern und warfen unscharfe Schatten an die weißen Wände, wie huschende Tiere. »Ich zünde besser ein Feuer an, falls der Strom ausfällt«, sagte Stuart jetzt.
»Ich werde husten und prusten und dir dein Haus zusammenpusten«, flüsterte Ellen und erinnerte sich an das Märchen von den drei kleinen Schweinchen und dem großen bösen Wolf, das ihre Mutter ihr als Kind immer vorgelesen hatte. Unerwartet schossen Tränen in ihre tief liegenden blauen Augen. Erstaunlich, dachte sie, da weinte sie mit siebzig um die Mutter, die sie vor fast zwanzig Jahren verloren hatte. Als ob sie noch immer das kleine Mädchen wäre, das zusammengerollt im Schoß seiner Mutter lag, von ihren schützenden Armen umhüllt. Sie vermisste sie nach wie vor schmerzhaft, spürte ihre Abwesenheit beinahe so intensiv wie früher ihre Anwesenheit. Bis heute fühlte sie die weiche Berührung ihrer Lippen auf ihrer Stirn. Sie hatte noch den Blick vor Augen, mit dem ihre Mutter sie jedes Mal stolz angesehen hatte, den dramatischen Ton ihrer Stimme im Ohr, mit dem sie ihr die Märchen der Gebrüder Grimm vorgelesen hatte. Ellen war immer davon ausgegangen, dass sie dieselben Geschichten eines Tages ihren eigenen Kindern und danach ihren Enkeln vorlesen würde. Aber keiner ihrer Söhne hatte sich besonders für Märchen interessiert oder auch nur lange genug still gesessen, dass sie über das obligatorische »Es war einmal« hinausgekommen wäre. Sie hatten sich zappelnd aus ihrem Schoß gewunden und erst Modellflugzeuge spannender gefunden als Bücher und später dann Mädchen spannender als so ziemlich alles andere. Beide Jungen waren inzwischen erwachsene Männer von dreiundvierzig und vierzig Jahren, hatten Frauen geheiratet, die sie an der Uni kennengelernt hatten – Todd hatte in Berkeley studiert, Ben in Stanford –, und waren mit ihnen an der Westküste geblieben. Keine der beiden Ehen hatte mehr als ein paar Jahre gehalten, beide Männer hatten wieder geheiratet, Ben sogar mehrmals, zuletzt eine Pole-Dancerin aus Russland. Aus den diversen Ehen waren fünf Kinder hervorgegangen, drei Jungen und zwei Mädchen – Mason, Peyton, Carter, Willow und Saffron – woher hatten sie bloß diese Namen? Alle waren mittlerweile Teenager und hatten keinen Kontakt mehr zu ihren Großeltern väterlicherseits an der Ostküste. Ellen konnte sich nicht erinnern, wann sie einen von ihnen zum letzten Mal gesehen hatte. Jahrelang hatte sie zu Weihnachten und Geburtstagen Geld
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