So will ich schweigen
ihn sogar noch vor kurzem auf dem Staff and Worcs Canal unterhalb von Stoke gesehen habe.
Am nächsten Tag hatte Annie mit ihrem eigenen Geld ein Boot gemietet. Sie wusste, dass ihre Abteilung die Bootsmiete niemals als angemessene Auslage anerkannt hätte. Aber ihr war auch klar, dass sie irgendwann in den letzten Wochen die Grenze dessen, was noch als angemessener Einsatz gelten konnte, überschritten hatte.
Als Bootsführerin war sie natürlich ein absolutes Greenhorn gewesen. Allein die Erinnerung daran, wie unmöglich sie sich bei den ersten Schleusen angestellt hatte, jagte ihr heute noch
einen Schauer über den Rücken. Nur schieres Glück und die freundliche Hilfe anderer Schiffer hatten sie davor bewahrt, das Boot durch ihre panischen und ungeschickten Manöver zum Kentern zu bringen oder von einem Schleusentor zu stürzen. Aber sie hatte nicht aufgegeben, und von Tag zu Tag hatte der Kanal sie mehr in seinen Bann gezogen, während sie sich auf dem Shropshire Union südwärts Richtung Birmingham vorgearbeitet hatte. Sie lernte, die »Joshers« zu identifizieren – die restaurierten Boote, die früher für die Frachtgesellschaft Fellows, Morton & Clayton gefahren waren, und als sie eines Abends die charakteristische Silhouette eines Joshers entdeckte, der unterhalb der Schleuse Wolverhampton 21 festgemacht hatte, begann ihr Herz höher zu schlagen. Sie fuhr näher heran, bis sie die verblasste Schrift auf dem Bootsrumpf entziffern konnte. Caroline. Das war der Name, den sowohl die Wains als auch ihr Informant, der Schiffer, ihr genannt hatten. Es gab Charlie wirklich, und sie hatte ihn gefunden. Ein berauschendes Gefühl des Triumphs durchfuhr sie.
Er war genau so, wie die Wains ihn beschrieben hatten, nur nicht mehr ganz so jung; ein dünner Mann mit Sommersprossen und einem strohblonden Pferdeschwanz. Nachdem er begriffen hatte, was Annie von ihm wollte, lud er sie auf ein Bier in seine kleine Kabine ein und schilderte ihr den Vorfall beinahe haargenau so, wie sie ihn von Rowan Wain gehört hatte. Annie, die ihre Erregung nur mühsam unterdrücken konnte, protokollierte seine Aussage und bat ihn, sie zu unterschreiben.
»Armer kleiner Wurm«, sagte er, als sie fertig waren. »Es war eindeutig eine Art von Anfall. Hat man irgendwann festgestellt, was ihm fehlt? Die Mutter sagte, er sei schon als Kind immer krank gewesen. Irgendwas mit Reflux und Ösophagitis. Ich weiß noch, dass ich mich gewundert habe, dass sie so ein kompliziertes Wort kennt.«
Zurück auf ihrem gemieteten Boot, hatte Annie sich zur
Feier des Tages zuerst einmal ein Glas Wein eingeschenkt und dann über ihr weiteres Vorgehen nachgedacht. Wenn Joseph tatsächlich unter Anfällen litt, wieso hatte der Arzt dann die Angaben der Eltern so schnell verworfen? Und gab es irgendeine Verbindung zwischen den Problemen, die der Junge als Säugling gehabt hatte, und seinen späteren Anfällen?
Mit einigem Bedauern war sie nach Nantwich zurückgekehrt und hatte das Boot zurückgegeben, um sich wieder in den Papierkram zu stürzen. Und endlich zahlte sich ihre Fleißarbeit aus. Sie stieß auf eine Unregelmäßigkeit in den Unterlagen des Krankenhauses in Manchester, wo Joseph zuvor behandelt worden war. Ein Bericht erwähnte eine frühere Einlieferung in ein Krankenhaus in Leeds, wo ihm Medikamente gegen die Refluxkrankheit verschrieben worden waren. Und doch hatte der Arzt in seinem Bericht an das Jugendamt behauptet, Joseph sei nie wegen irgendeiner der Beschwerden, die seine Eltern beschrieben hatten, behandelt worden. Wie konnte er das übersehen haben?
Oder vielleicht, dachte Annie, sollte man lieber fragen: Warum hatte er es übersehen? Sie wusste, dass das System nicht immun gegen Fehler war, dass Ärzte und Pflegepersonal oft überarbeitet und übermüdet waren, aber eine so schwerwiegende Anschuldigung hätte doch gewiss eine gründliche Überprüfung der Krankengeschichte des kleinen Jungen nach sich ziehen müssen.
Nachdem ihr Argwohn geweckt war, begann sie, das Krankenhauspersonal zu befragen und die Referenzen des behandelnden Arztes zu überprüfen. Sie fand heraus, dass er in dem Ruf stand, wenig Geduld mit Eltern zu haben, die sein Urteil in Frage stellten oder zu viel von seiner Zeit in Anspruch nahmen. Und in nicht weniger als drei anderen Fällen hatte er die Diagnose Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom gestellt. Selbst wenn man annahm, dass dies eine seriöse Diagnose war,
blieb die Tatsache, dass eine solche Häufung von
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