So zärtlich war das Ruhrgebiet
und
Eisenbahnverkehr zum Erliegen, viele Ortschaften waren abgeschnitten von der
Außenwelt.
Strom- und Telefonnetze fielen aus,
da sich bis zu dreißig Zentimeter dicke Eispanzer um die Leitungen legten und
die Strom- und Telefonmasten unter dem Gewicht zusammenbrachen. Räumfahrzeuge
der Gemeinden konnten die Schneemassen nicht mehr bewältigen, so dass die
Bundeswehr mit Panzern eingesetzt wurde, um liegen gebliebene Fahrzeuge und
Züge zu erreichen. Viehbestände gingen zu Grunde, Bäckereien konnten ohne Strom
nicht mehr backen, es herrschte Mangel an Brot.
Auch in Dortmund-Brechten waren die Felder und
Wiesen von einer dicken Schneeschicht bedeckt, und auf den zugefrorenen Teichen
spielten Kinder Eishockey. Mama strickte Martin und mir dicke Norwegerpullis. Ich
dachte an Carola, die ich bislang nicht wiedergesehen hatte. Erst Anfang Januar,
so war es brieflich verabredet worden, würden Rüdiger und ich die Mädchen in
Gelsenkirchen besuchen.
Den Silvesterabend verbrachte ich auf einer Fete in
Dortmund-Mengede, zu der mich ein Mädchen von der Gertrud-Bäumler-Schule
eingeladen hatte. Das Dumme war nur, dass sie selbst gar nicht erschien und ich
von Martina, der Gastgeberin, angeguckt wurde, als hätte ich mir den Zutritt
erschlichen.
Die Party selbst erwies sich als völliger
Reinfall. Vor zwölf Uhr langweilte sich alles, danach wurde es schlimmer. Ein
gewisser Torsten legte dreimal hintereinander „Yes, Sir, I Can Boogie“ auf. Der
andere Song, den er spielte, war „Yesterday Man“ von Chris Andrews. Als ich ihn
zur Rede stellte, erklärte er mir, diese beiden Singles wären die einzige
vorhandene Musik, ansonsten seien nur Hörspielplatten vorhanden. Das Schlimme
war: Er sagte die Wahrheit.
Als einer der Gäste tatsächlich
eine Kleiner-König-Kallewirsch-LP auf den Plattenteller legte und den Tonarm aufsetzte,
wusste ich, dass es Zeit war zu gehen. Blöd nur, dass ich mich in Mengede
befand. Bis Brechten waren es gut und gern sechs Kilometer, vielleicht sogar
mehr. Also entschied ich mich, die kürzeste Route zu nehmen, quer über die
Kohlehalden in Dortmund-Deusen, die unter einer dicken Schneeschicht glitzerten
– die Entscheidung eines Schwachsinnigen, der von Kohle und ihrem Rutschverhalten
nicht die geringste Ahnung hatte. Kaum hatte ich mich ein paar Meter in die
Höhe gekämpft, geriet die unter dem Schnee verborgene Kohle in Bewegung, sackte
nach unten und ich mit ihr mit.
Laut meiner Armbanduhr kämpfte
ich mich bereits seit über zwei Stunden die Halden hinauf und hinunter und
wieder hinauf, war aber noch nicht wirklich vorwärtsgekommen. Als ich wieder
einmal abwärts kugelte und mich, vom Schnee bis auf die Unterhose durchnässt,
aufrappelte, schlug ich mich nicht minder mühsam zur Mengeder Straße zurück. Im
Licht der Straßenlaternen entdeckte ich, dass nicht nur der Schnee seine Spuren
auf meiner Kleidung hinterlassen hatte, sondern auch die Kohle.
Kurz vor sechs traf ich zu Hause
ein und stieß, völlig durchgefroren und entkräftet, auf meinen Vater, der soeben
von seiner Minicar-Nachtschicht zurückgekehrt war. Er schaute mich an, als
dächte er über eine sehr späte Abtreibung nach. Vor dem Badezimmerspiegel sah
ich, warum. Ich sah aus wie ein Kumpel nach zwölf Stunden im Schacht, Roberto Blanco
war nichts gegen mich.
Ich stellte mich in die Badewanne
und spritzte mich ab. Als Mama später die Bescherung entdeckte, flippte sie
aus. Das ganze Bad war mit Kohle verschmiert. Ich war einfach zu müde gewesen,
um selbst noch sauberzumachen.
Erst abends gegen sieben wachte
ich auf, fiebrig und schwach. Ich aß etwas Suppe und verkroch mich wieder ins
Bett.
1979 – Sheik Yerbouti
Das neue Jahr machte im wesentlichen dort weiter, wo das
alte aufgehört hatte: Norddeutschland kämpfte mit dem Schnee, und Onkel Catcher
lag im Krankenhaus, weil er im „Hafentor“ den Sinn des Universums angezweifelt
hatte, Tische und Stühle zerschlagen und sich ein kurzes Scharmützel mit der
Polizei geliefert hatte. Wie immer, wenn wir ihn im Krankenhaus besuchten, lag
er nur mit einer Unterhose bekleidet auf dem Bett, eine Roth Händle ohne im
Mund.
Rüdiger und ich fuhren mit dem Zug nach Gelsenkirchen,
stiegen am Hauptbahnhof in einen Bus und fuhren nach Bismarck hinaus. Das
Treffen fand in der elterlichen Wohnung von Kerstin Schenkenberger statt, und
leider waren wir nicht nur zu viert, sondern auch Bärbel und Anne waren gekommen.
Zu
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