Social Netlove
aus der Hand, aus der ich mir soeben nachschenken wollte. »Diese Sorte macht dich immer so melodramatisch«, sagte er kopfschüttelnd und stellte mir stattdessen eine Colaflasche vor die Nase. »Hier, damit du wieder munter wirst.«
Einen Augenblick lang schwiegen wir, dann blickte Thomas mich aufmunternd an. »Das mit Isa und dir, das wird schon wieder. Ihr habt zwar zwei gegensätzliche Richtungen im Leben eingeschlagen, aber das bedeutet ja noch lange nicht, dass ihr nicht wieder einen gemeinsamen Nenner finden könnt, auf dem sich eure Freundschaft weiterentwickeln kann.«
Wow
. Thomas war ja richtig philosophisch. Beeindruckt nahm ich einen Schluck Cola und starrte geistesabwesend auf eines von Thomas' Plastikbäumchen, die in der ganzen Wohnung verteilt waren. »Ich glaube nicht, dass wir jemals wieder so eng befreundet sein werden … Nicht so wie früher.«
Als ich Isa kennengelernt hatte, hatte für meine Eltern vermutlich der größte Alptraum ihres Lebens begonnen, denn Isabelle hatte mich aus meinem wohlbehüteten Kokon herausgeholt, in dem meine Persönlichkeit vermutlich irgendwann verkümmert wäre. Ich war bis dahin ein braves, ziemlich fügsames Kind gewesen, das selbst an freien Nachmittagen und Wochenenden voller Eifer für die Schule lernte, weil es seinen Alltag nicht anders gewohnt war. Meine Eltern besuchtenmit mir ausschließlich pädagogisch wertvolle Einrichtungen, also Museen, Tierparks und Ausstellungen, die extra für Kinder organisiert worden waren. Kinos oder Freizeitparks kannte ich nur vom Hören-Sagen, denn meine Eltern verteufelten grundsätzlich alles, was mich im Leben nicht weiterbringen würde. Als Kind adaptierte man schnell die Ansichten der Eltern und so entwickelte ich mich zu einem wahren Streberkind. Die dritte Klasse übersprang ich und bei meinem Abgang von der Privatschule wurde mir vorausgesagt, dass ich auf dem staatlichen Gymnasium eine weitere Klasse überspringen könnte. Leider durchkreuzte Isabelle diesen Plan, denn dadurch, dass wir pausenlos zusammenhingen, verschlechterten sich meine Noten bis zur zehnten Klasse rapide. Meine Eltern hatten zunächst versucht, sich nicht anmerken zu lassen, wie wütend sie darüber waren, und probierten es mit pädagogischem Verständnis für meine ‚wilde Phase‘. Als dies nicht half, bekam ich Stubenarrest – doch auf Dauer konnte auch das Isa und mich nicht trennen. Am nächsten Schultag trafen wir uns ja doch wieder und heckten alberne Pläne und Träume aus. Träume, die längst in Vergessenheit geraten waren …
»Kopf hoch, Marie.« Thomas warf mir aus seinen olivgrünen Augen einen warmen Blick zu. »Wie wäre es jetzt mit einer Tüte Chips? Gegen deine Weindepressionen hilft das doch immer einwandfrei.«
»Ich hab keine Weindepressionen«, protestierte ich mit schwerer Zunge.
Wie gemein
. »Und an deinen Futterorgien will ich auch nicht teilnehmen. Wegen dir passe ich bald in keine meiner Hosen mehr hinein!«
»Unbefleckte Empfängnis, hm? Was wird es denn?«, fragte Thomas grinsend und wich geschickt einem hellbraunen Plüschkissen aus, das ich unbeholfen nach ihm warf.
»Haha«, murrte ich und beobachtete ihn finster dabei, wie er in die offene Küche seiner durchgestylten Wohnung ging und eine riesige gläserne Schüssel mit Peperoni-Chips füllte.
»So, und jetzt entspann dich mal«, sagte Thomas mit Nachdruck und ließ sich neben mich auf die Couch plumpsen. Die Schüssel stellte er auf seinem Bauch ab und es dauerte keine Minute, ehe meine Finger zu ihr hinüberwanderten. Mein bester Freund drehte den Ton seines superteuren, riesigen Flachbildfernsehers etwas lauter und wir taten endlich das, weshalb ich hergekommen war: Um vom nervigen Arbeitstag abzuschalten und zu vergessen, dass ein unsympathischer Alien Besitz von meiner bester Freundin ergriffen hatte und dass meine eigenen Prioritäten, mit denen ich mich gestern so vor Isa gebrüstet hatte, in unerreichbar weiter Ferne lagen.
Wir ließen uns von einer dieser neuartigen Scripted-Reality-Sendungen berieseln, die minder aufgeweckten Leuten vorgaukeln sollte, es gäbe tatsächlich solch dumme, faule und geschmacklose Menschen, die dann auch noch bereit waren, ihr verkorkstes Leben vor einem Kameramann und halb Deutschland auszubreiten. Ich fand die Stories, mit denen man in solchen Formaten konfrontiert wurde, meist so dämlich, dass ich mich unentwegt darüber aufregen musste. Vermutlich war gerade dies das Ziel der Produzenten, die sicher auch
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