Social Netlove
musste sofort an dich denken und habe mir ihre Karte geben lassen – denn sie hat mir verraten, dass ihre Stoffauswahl in der heimischen Garage noch hundert Mal größer sei als der Teil, den sie mit an ihren Stand nimmt. Also, wenn du mal in London bist, solltest du sie auf jeden Fall besuchen. Die Adresse bekommst du bei mir.
Entweder bekam ich gerade einen Herzinfarkt oder mein Puls stieg in diese ungewohnten Höhen, weil Jamie ganz offen zugab, dass er an
mich
gedacht hatte.
Betreff: Stoffflüsterer
10. April um 21:04
Lieber Jamie,
nicht schlecht, die alte Dame muss ja wirklich tolle Stoffe gehabt haben – oder war sie vielleicht gar nicht so alt und du hast ihr die Adresse aus purem Eigennutz abgejagt?
Ich habe mich heute den ganzen Tag auf einer Messe herumgetrieben, auf der ich nichts anderes getan habe, als überfordert High-Tech-Stände anzustarren und der Fachsimpelei meines besten Freundes zu lauschen. Dabei hatte ich genügend Zeit, zu beobachten, wie sehr meine Begleitung in seinem Job aufgeht. Er lebt für seinen IT-Kram und verbringt freiwillig einen Sonntag inmitten von dutzenden Kollegen und Branchenfreunden, ohne dabei den Spaß zu verlieren. Wie gerne hätte ich so etwas auch – einen Job zu machen, der mich völlig ausfüllt und in dem ich vor allem auch wirklich etwas erreichen kann. Ein Job, der mich stolz macht.
Ich drücke mich sogar vor den jährlichen Klassentreffen, weil mir mein anspruchsloser Job peinlich ist. Traurig, oder? Ich würde gerne etwas schaffen, bei dem die Leute, die meine Leidenschaft früher nicht ernst genommen haben, sagen müssen: Wow, Marie hat ihren Traum wahrgemacht, das hätten wir ihr niemals zugetraut.
So wie du. Du kannst noch deinen Urenkeln davon erzählen, dass du vor hunderttausend Menschen in Konzerthallen aufgetreten bist und mit ihnen gemeinsam deine Preise in den Vitrinen bewundern. Das muss ein tolles Gefühl sein, wenn man stolz auf sich und seinen Erfolg sein kann.
Alles Liebe,
Marie
Betreff: The secret of fame
10. April um 21:17
Marie,
was habe ich denn, worauf ich stolz sein kann? Der Erfolg ist genauso schnell gegangen wie er gekommen war. Alles was bleibt, ist die Erinnerung an eine Zeit voller schlafloser Nächte, Parties, auf denen nur der Name zählte, Frauen, die sich mir wie Geier an den Hals geworfen haben und viele Fans, die heute nicht mal mehr mein Gesicht erkennen, weil ich längst aus ihren Köpfen verschwunden bin. Wie könnte ich stolz darauf sein, dass ich meine Familie über meinem ‚Ruhm‘ vergessen habe? Dass ich nicht da war, als meine Großmutter starb, weil ichmir lieber auf der Tour durch Japan einen Drink nach dem anderen hineingekippt hatte? Das Schlimmste ist vermutlich, dass meine Familie mich nach meinem Fall wieder aufgenommen hat, so als sei nichts gewesen, und ich habe es für selbstverständlich gehalten. Ich habe mich nie für das entschuldigt, was ich ihnen mit meinem selbstherrlichen und arroganten Verhalten angetan habe. Denkst du, diese Story taugt dafür, sie meinen Urenkeln am Kaminfeuer zu erzählen? Ich bin nicht der leuchtende Stern, der jahrelang über den Musikhimmel gewandert ist. Ich bin nur die Illusion eines Scheins – und wenn der weg ist, ist es finstere Nacht.
Das warme Gefühl, das ich vor wenigen Minuten noch in den Wangen und im restlichen Körper verspürt hatte, war einem kalten Schauer gewichen.
Ach du liebe Güte
. Nach dem Geplänkel der letzten Wochen hätte ich nicht gedacht, dass Jamie sich selbst so verachtete. Allerdings hatte er sich mit Anekdoten über seine B.Touched-Vergangenheit oder anderen persönlichen Informationen bisher ohnehin zurückgehalten – und ich hatte mich auch nicht getraut, ihn zu fragen, aus Angst er könnte dann plötzlich nur noch einen neugierigen Fan in mir sehen. Dieser Gedanke war nach den zwei Wochen, in denen wir uns nun ständig hin und her schrieben, vielleicht etwas paranoid, doch ich wollte es einfach nicht darauf ankommen lassen. Wenn Jamie mir etwas über sich erzählen wollte, dann würde er das schon tun. So wie jetzt.
»Na, wer schreibt dir da Liebesbriefe?« Ich erschrak, als unerwartet Thomas‘ Stimme hinter meiner Schulter ertönte.
»Niemand«, antwortete ich schnell und schloss den Explorer. »Nur ein Bekannter.«
»Aha.« Thomas schmunzelte und drehte den Schreibtischstuhl, auf dem ich saß, zu sich herum. »Du Lügnerin! So wie du guckst, hat dein
Bekannter
dir wohl gerade eine Abfuhr erteilt, was?« Er grinste
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