Söhne der Erde 02 - Der Rote Kerker
Schicksal zu bestimmen.
Und die Kinder?
Wenn es wirklich einmal zum Äußersten kam wer hatte dann das Recht, über das Schicksal der Kinder zu bestimmen?
Sie würden mitgerissen werden, ungefragt. So, wie die Priester und die Überlebenden aus dem Tempeltal mitgerissen wurden. Charru fuhr sich mit der Hand über die Stirn, um die quälende Frage zu verscheuchen. Vielleicht würden sie diese letzte und schlimmste Entscheidung wirklich einmal treffen müssen. Aber nicht hier, nicht jetzt.
»Wir haben vierundzwanzig Stunden«, sagte er hart. »Zeit genug, um diesen Ort zu verlassen. Wir werden durch die Wüste gehen.«
Stille.
Camelo von Landre atmete tief auf. Jarlons Augen funkelten. Kormak und Karstein tauschten einen Blick und lächelten.
Die Wüste...
Und jenseits der endlosen Öde Felsen, Wasser und grünes Land. Ein Platz weit entfernt von Kadnos, weit genug vielleicht, um auch ihre Jäger zu schrecken.
»Aber man kann die Wüste nicht durchqueren!«
Die dünne, hohe Greisenstimme schnitt wie ein Peitschenhieb durch das Schweigen.
Bar Nergal hatte sich aufgerichtet. In dem fahlen Totengesicht zuckte es. Neben ihm fuhren zwei, drei von den Priestern auf; als habe man sie geschlagen. Bar Nergals Lippen verzerrten sich, und seine Stimme wurde stärker, während er die Arme ausbreitete.
»Ihr Wahnsinnigen! Ihr versündigt euch! Niemand kann die Wüste durchqueren, ich weiß es! Ihr wollt euch nicht beugen! Ihr habt nie dem Gesetz gehorcht. Ihr wollt auf dem Pfad der Verdammnis weiterschreiten...«
Mit einem erstickten Laut fuhr Jarlon herum.
Sein Gesicht war schlagartig fahlweiß geworden. Jahre der Furcht, der Wut, der ohnmächtigen Auflehnung wurden wieder in ihm lebendig. Mit einem wilden Schrei stürzte er sich auf die Gestalt in der roten Robe, stieß den hageren Körper gegen die Wand, holte aus, um ihn zu schlagen.
»Jarlon!«
Der Junge hörte nicht. Karstein und Kormak mußten ihn mit Gewalt zurückreißen, und selbst dann bäumte er sich noch auf und versuchte, den Griff zu sprengen.
»Jarlon!«
Diesmal erreichte ihn der peitschende Befehl.
Er wurde ruhig und biß die Zähne zusammen, um den erstickenden Zorn zu beherrschen. Bar Nergal lehnte keuchend an der Wand, haßglühend, mit Augen, in denen Wut und Wahnsinn wie eine verzehrende, unauslöschliche Flamme loderten.
Die Priester zitterten.
Zu viele Jahre waren sie Bar Nergals gehorsame Diener gewesen. Ein lebenslanges Joch ließ sich nicht von heute auf morgen abschütteln. Der Oberpriester hatte lange geschwiegen. Sein Wort war nicht mehr Gesetz, aber es hatte immer noch Gewicht. Instinktiv scharten sich die Priester um ihn, drängten sich ein paar von den Tempeltal Leuten in seine Nähe - als habe sich die alte Kluft plötzlich von neuem aufgetan, als sei die Große Mauer unsichtbar immer noch vorhanden.
Charru wartete, bis das erregte Gemurmel verstummte. Seine Stimme klang ruhig und hart.
»Wir zwingen niemanden. Wer nicht mit uns gehen will, dem steht es frei, zu bleiben und sich zu ergeben. Wir werden Vorsorge treffen, damit wir nicht verraten werden, das ist alles.«
»Wahnsinn«, flüsterte Bar Nergal. »Wahnsinn! Frevel...«
Ein junger Akolyth löste sich aus dem Kreis. Ayino.
»Ich gehe mit Charru von Mornag«, sagte er einfach. »Er hat uns in die Freiheit geführt. Ich will kein Sklave mehr sein.«
»Er hat die Schwarzen Götter besiegt«, flüsterte einer der Priester.
»Ja... und er kannte die Wahrheit...«
Die unsichere Stimme brach ab, als fürchte der Sprecher, schon zuviel gesagt zu haben.
Aber in seinem blassen Gesicht erschien ein entschlossener Zug. Er löste sich von der Wand und trat rasch neben den jungen Akolythen, ohne Bar Nergal anzusehen. Ein paar von den Tempeltal Leuten zogen sich zurück, suchten wieder die Nähe der anderen, verbargen sich zwischen ihnen. Fünf Priester standen allein. In ihrer Mitte ließ der greise Nabu Gor den Blick zwischen Bar Nergal und Charru von Mornag hin und her wandern.
Ein paar Sekunden verstrichen, dann senkte der Stellvertreter des Oberpriesters den Kopf.
»Wir gehen mit«, sagte er tonlos. »Wir alle...«
Es war eine Entscheidung, die auch Bar Nergal mit einbezog, doch der verharrte wie versteinert und schien seine Umgebung nicht mehr wahrzunehmen.
*
»Das ist alles«, sagte Conal Nord ruhig. »Verlangen Sie bitte keine Prognose von mir, Simon. Ich kann Ihnen nicht sagen, was die Barbaren tun werden. Ich weiß nur, daß es die beste Lösung wäre, sie
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