Soehne & Liebe der Nacht
Schriftsteller, der die Geschichte vom Ende eines Lebens schrieb.
Jetzt war er auf dem Weg zu Jared, um ihm den Dolch zu übergeben, den sein Bruder Henry vor zwanzig Jahren in dieser Stadt an einen Avatar verloren hatte. Ein teuflisches Lächeln vereinte sich mit der Nacht.
„Gut gemacht“, sagte er zu sich selbst. Die Welt des Schöpfers war nah.
4
Schläfrig saß Lara wie jeden Abend hinter dem Schreibtisch in ihrer parapsychologischen Praxis, die endlich menschenleer war. Die Wanduhr, von der ihr Mutter Maria zulächelte, zeigte eine halbe Stunde nach Mitternacht. Draußen tobte ein Sturm, der Regentropfen heftig gegen die Fensterscheiben schlug. Lara massierte ihre Schläfen, die wie verrückt pochten, und hörte in Gedanken die warmherzige Stimme ihrer Großmutter, die sie ermahnte, nicht so viel zu arbeiten.
Lara warf einen wehmütigen Blick auf das Bild zweier Frauen, das vor ihr auf den Schreibtisch stand. Ihre Schwester Diana hatte sie schon vor langer Zeit verloren und auch ihre Großmutter Melinda hatte vor drei Monaten einen Herzinfarkt erlitten und sie ohne Familie auf der Welt zurückgelassen. Laras Eltern waren bei einem Autounfall gestorben, als sie gerade zwei Jahre alt gewesen war. Ihre Großmutter hatte sie und Diana bei sich aufgenommen und so gut es ging Vater und Mutter ersetzt. Tränen traten in Laras Augen. Heute war ihre Wohnung eine Insel aus Einsamkeit mit Bildern von Menschen, die es nur noch im Gestern gab.
Das plötzliche Klingeln des Telefons riss sie aus ihren melancholischen Gedanken. Sie wusste, es würde nicht verstummen. Mit einem tiefen Atemzug nahm sie den Hörer ab.
„Hallo, Thomas“, sagte sie müde.
„Ich dachte schon, ich muss meine Lieblingsnachbarin als vermisst melden“, hörte sie die besorgte Stimme ihres Nachbarn, der vor vier Monaten die Wohnung neben ihr bezogen hatte. Er war wie der Bruder, den sie nie hatte. Thomas hatte versucht, sie nach dem Tod ihrer Großmutter zu trösten. Er war Balsam für ihre Seele, aber nicht für ihr trauerndes Herz.
„Thomas“, erwiderte sie lächelnd, „ich habe nicht bemerkt, wie schnell die Zeit vergeht. Ich komme sofort nach Hause, damit du ruhig schlafen kannst.“
„Ich höre den Sarkasmus in deiner Stimme. Ich mache mir eben Sorgen.“ Lara wusste, dass Thomas’ Besorgnis echt war. „Was hältst du davon, mich abzuholen?“, fragte sie versöhnlich.
„Ich bin gleich da“, antwortete Thomas und eine Sekunde später knackte es in der Leitung.
Lara legte kopfschüttelnd den Hörer auf. Dieser Mann war ihr ein Rätsel. Ihre Wohnung befand sich nur zwei Häuser weiter und Thomas tat, als müsste sie das Meer durchqueren. Sie hatte sich fest vorgenommen, nicht mehr ans Telefon zu gehen, wenn er anrief, nur weil sie nicht Punkt zwölf Uhr zu Hause war. Aber sie wollte sich nicht vorstellen, was er dann anstellen würde. Wahrscheinlich würde er ein Polizeiaufgebot bestellen.
*
Erleichtert, Laras Stimme gehört zu haben, hatte Thomas den Hörer aufgelegt.
„Wenn du wüsstest, in welcher Gefahr du schwebst“, flüsterte er leise. Eine Minute später lief er hastig die Treppe des Hausflurs hinunter.
5
Unzählige schwarze Kerzen in goldenen Kerzenständern erhellten den Kellerraum der stillgelegten Textilfabrik am Ende der Stadt. Um einen Holztisch versammelt, saßen sechs in schwarz gekleidete Söhne der Nacht. Ihre grünen Augen funkelten gefährlich. Hierher hatten sie sich zurückgezogen, um die Auferstehung ihres Schöpfers vorzubereiten. Die Kelche, die vor ihnen standen, waren randvoll gefüllt mit menschlichem Blut. Um keinen Avatar anzulocken, der sie aufhalten konnte, hatten sie beschlossen, keine blutleeren Opfer in der Stadt zurückzulassen. Ihre Nahrung hatten sie zahlreich im Keller nebenan angekettet.
„Wir dürfen nicht versagen, wie einer in unserer Mitte vor zwanzig Jahren“, mahnte Jared. Sein Blick wanderte zu seinem Bruder.
„Ich habe gekämpft wie ein Löwe“, verteidigte sich Henry entrüstet.
„Du lagst am Boden wie ein verletztes Junges“, erwiderte Jared energisch. „Wir konnten dich nur retten, weil der Avatar so sentimental war, um die Auserwählte zu trauern. Seit zwanzig Jahren leben wir mit der Schmach unserer Niederlage. Dieses Mal hätte unser Versagen tödliche Konsequenzen.“
Seine Brüder wussten, was er meinte. Auch sie hatten die telepathische Botschaft ihres Schöpfers noch im Ohr: „Wenn meine Auferstehung erneut fehlschlägt, werdet ihr die Wärme der
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