Sofies Welt - Roman über die Geschichte der Philosophie
jetzt brauchen wir ein Beispiel: Stell dir vor, du findest im Wald einen runden Fichtenzapfen. Vielleicht sagst du, du »findest«, der sieht kugelrund aus – aber Jorunn behauptet, er sei auf der einen Seite ein bisschen plattgedrückt. (Und dann streitet ihr euch!) Aber ihr könnt kein sicheres Wissen über das haben, was ihr mit den Augen seht. Dagegen könnt ihr mit voller Sicherheit wissen, dass die Winkelsumme in einem Kreis 360° beträgt. Und dann sprecht ihr von einem ideellen Kreis, den es in der Natur nicht gibt, aber den ihr zum Ausgleich ganz klar vor eurem inneren Auge seht. (Ihr sagt etwas über die versteckte Kuchenform – und nicht über einen zufälligen Pfefferkuchenmann auf dem Küchentisch.)
Kurze Zusammenfassung: Über das, was wir wahrnehmen oder empfinden , können wir nur unsichere Meinungen haben. Aber über das, was wir mit der Vernunft erkennen , können wir sicheres Wissen erlangen. Die Winkelsumme in einem Dreieck beträgt in alle Ewigkeit 180°. Und so wird auch die »Idee«, dass alle Pferde auf vier Beinen stehen, weiter gelten, selbst wenn alle Pferde in der Sinnenwelt einmal lahm werden sollten.
Eine unsterbliche Seele
Wir haben gesehen, dass Platon die Wirklichkeit für zweigeteilt hielt.
Der eine Teil ist die Sinnenwelt – über die wir nur ungefähre oder unvollkommene Kenntnis erlangen können, indem wir unsere fünf (ungefähren und unvollkommenen) Sinne benutzen. Von allem in der Sinnenwelt gilt, dass »alles fließt« und dass folglich nichts Bestand hat. Nichts ist in der Sinnenwelt, es gibt nur viele Dinge, die entstehen und vergehen.
Der andere Teil ist die Ideenwelt – über die wir sicheres Wissen erlangen können, wenn wir unsere Vernunft gebrauchen. Diese Ideenwelt lässt sich mit den Sinnen also nicht erkennen. Zum Ausgleich sind die Ideen (oder Formen) ewig und unveränderlich.
Platon zufolge ist auch der Mensch ein zweigeteiltes Wesen. Wir haben einen Körper , der »fließt«. Er ist unlösbar mit der Sinnenwelt verbunden und erleidet dasselbe Schicksal wie alles andere hier (zum Beispiel eine Seifenblase). Alle unsere Sinne sind mit dem Körper verbunden und folglich unzuverlässig. Aber wir haben auch eine unsterbliche Seele – und sie ist der Wohnsitz der Vernunft. Eben weil die Seele nicht materiell ist, kann sie einen Blick in die Ideenwelt werfen.
Jetzt habe ich es fast gesagt. Aber es gibt noch mehr, Sofie: Ich sage: ES GIBT NOCH MEHR!
Platon meint weiter, dass die Seele schon existiert hat, ehe sie sich in unserem Körper niederließ: Einst war die Seele in der Ideenwelt. (Sie lag zusammen mit den Kuchenformen oben im Schrank.) Aber sowie die Seele in einem Menschenkörper erwacht, hat sie die vollkommenen Ideen vergessen. Und dann passiert etwas, ja, jetzt setzt ein wunderbarer Prozess ein: Wenn der Mensch die Formen in der Natur erlebt, taucht nach und nach in der Seele eine vage Erinnerung auf. Der Mensch sieht ein Pferd – aber eben ein unvollkommenes Pferd (ja, ein Pfefferkuchenpferd!). Das reicht aus, um in der Seele eine vage Erinnerung an das vollkommene Pferd zu erwecken, das die Seele einst in der Ideenwelt gesehen hat. Damit wird auch eine Sehnsucht nach der eigentlichen Wohnung der Seele erweckt. Platon nannte diese Sehnsucht Eros – und das bedeutet Liebe. Die Seele verspürt also eine »Liebessehnsucht« nach ihrem eigentlichen Ursprung. Von nun an erlebt sie den Körper und alles Sinnliche als unvollkommen und unwesentlich. Auf den Fittichen der Liebe möchte die Seele »heim« in die Ideenwelt fliegen. Sie möchte aus dem Kerker des Körpers befreit werden.
Nun muss ich gleich betonen, dass Platon hier einen ideellen Lebenslauf beschreibt. Denn durchaus nicht alle Menschen lassen ihrer Seele freien Lauf, damit sie ihre Reise zurück in die Ideenwelt antreten kann. Die meisten Menschen klammern sich an die »Spiegelbilder« der Ideen in der Sinnenwelt. Sie sehen ein Pferd – und noch ein Pferd. Aber sie sehen nicht das, wovon alle Pferde nur eine schlechte Nachahmung sind. (Sie stürzen in die Küche und machen sich über die Pfefferkuchen her, ohne zu fragen, woher sie gekommen sind.) Platon beschreibt den Weg der Philosophen . Seine Philosophie können wir als Beschreibung der Tätigkeit eines Philosophen lesen.
Wenn du einen Schatten siehst, Sofie, dann denkst du doch auch, dass etwas diesen Schatten werfen muss. Du siehst den Schatten eines Tieres. Vielleicht ist das ein Pferd, denkst du, aber du kannst nicht ganz sicher
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