Sofies Welt - Roman über die Geschichte der Philosophie
entfernte. Am Ende war alles still.
Sofie setzte sich auf einen Baumstumpf bei einer kleinen Lichtung. In der Hand hielt sie den großen gelben Briefumschlag. Sie öffnete ihn, zog mehrere beschriebene Bögen heraus und fing an zu lesen:
Platons Akademie
Schön, dich zu sehen, Sofie! Ich meine natürlich in Athen. Damit hätte ich mich dir endlich vorgestellt, nicht wahr. Und da ich dir auch Platon vorgestellt habe, können wir gleich anfangen.
Platon (427–347 v. Chr.) war 29 Jahre alt, als Sokrates den Schierlingsbecher leeren musste. Er war lange Schüler des Sokrates gewesen und verfolgte den Prozess gegen ihn genau. Dass Athen den edelsten Menschen der Stadt zum Tode verurteilen konnte, machte nicht nur einen unauslöschlichen Eindruck auf ihn; es sollte auch die Richtung seiner gesamten philosophischen Tätigkeit bestimmen.
Für Platon brachte der Tod des Sokrates glasklar zum Ausdruck, welcher Widerspruch zwischen den tatsächlichen Verhältnissen in einer Gesellschaft und dem Wahren oder Ideellen bestehen kann.
Platons erste Handlung als Philosoph war die Veröffentlichung von Sokrates’ Verteidigungsrede. Darin teilt Platon mit, was Sokrates dem großen Gerichtshof vortrug.
Du weißt sicher noch, dass Sokrates nichts selber geschrieben hat. Viele Vorsokratiker hatten das getan, nur ist ihr schriftliches Material zum größten Teil nicht für die Nachwelt aufbewahrt worden. Was Platon betrifft, so glauben wir, dass all seine Hauptwerke erhalten sind. (Außer Sokrates’ Verteidigungsrede schrieb er Briefe und nicht weniger als fünfunddreißig philosophische Dialoge.) Dass diese Schriften bewahrt sind, liegt nicht zuletzt daran, dass Platon bei Athen seine eigene philosophische Schule eröffnete. Und zwar in einem Hain, der den Namen des griechischen Sagenhelden Akademos trug. Platons Philosophieschule erhielt deshalb den Namen Akademie . (Seither sind auf der ganzen Welt viele Tausende von Akademien eröffnet worden. Wir sprechen noch immer von »Akademikern« und »akademischen Fächern«.)
An Platons Akademie wurden Philosophie, Mathematik und Gymnastik unterrichtet. Obwohl »unterrichten« vielleicht nicht ganz das richtige Wort ist. Auch an Platons Akademie war das lebendige Gespräch das Wichtigste. Deshalb ist es kein Zufall, dass der Dialog die Form wurde, in der Platon seine Philosophie niederschrieb.
Das ewig Wahre, ewig Schöne und ewig Gute
Zu Beginn dieses Philosophiekurses habe ich dir gesagt, dass es sich oft lohnt, nach dem Projekt eines bestimmten Philosophen zu fragen. Und deshalb frage ich jetzt: Was wollte Platon untersuchen?
Kurz gesagt: Platon interessierte sich für die Beziehung zwischen dem, was auf der einen Seite ewig und unveränderlich ist – und dem, was auf der anderen Seite »fließt«. (Genau wie die Vorsokratiker also!)
Dann haben wir gesagt, dass sich die Sophisten und Sokrates von den Fragen der Naturphilosophie abgewandt und sich mehr für den Menschen und die Gesellschaft interessiert hatten. Und das stimmt schon; aber auch die Sophisten und Sokrates beschäftigten sich in bestimmter Weise mit dem Verhältnis zwischen dem, was auf der einen Seite ewig und beständig ist – und dem, was auf der anderen Seite »fließt«. Sie beschäftigten sich mit dieser Frage, wenn es um die Moral des Menschen und die Ideale oder Tugenden der Gesellschaft ging. Die Sophisten meinten, grob gesagt, die Frage, was Recht ist und was Unrecht, verändere sich von Stadtstaat zu Stadtstaat und von Generation zu Generation. Die Frage von Recht und Unrecht sei also etwas »Fließendes«. Sokrates konnte das nicht akzeptieren. Er glaubte an ewige Regeln oder Normen für das menschliche Handeln. Wenn wir nur unsere Vernunft anwenden, meinte er, können wir alle solche unveränderliche Normen erkennen, denn die menschliche Vernunft ist ja gerade etwas Ewiges und Unveränderliches.
Bist du noch da, Sofie? Und nun kommt also Platon. Er interessiert sich sowohl für das, was in der Natur ewig und unveränderlich ist – als auch für das, was in Moral und Gesellschaft ewig und unveränderlich ist. Ja, für Platon ist das ein und dasselbe. Er versucht, eine eigene »Wirklichkeit« zu fassen zu bekommen, die ewig und unveränderlich ist. Und ehrlich gesagt, dafür haben wir ja gerade Philosophen. Es geht ihnen nicht darum, die schönste Frau des Jahres oder die billigsten Tomaten des langen Donnerstags zu küren. (Deshalb sind sie nicht immer beliebt!) Philosophen versuchen, solche eitlen
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