Sofies Welt - Roman über die Geschichte der Philosophie
genau dieselbe Weise gelöst wie Platon. Wie die meisten Philosophen ist er sozusagen »aus dem Weltraum gefallen«. (Er hat sich ganz oben auf einem der dünnen Haare im Kaninchenfell niedergelassen.) Er hat sich darüber gewundert, wieso alle Phänomene in der Natur sich so ähnlich sein können, und er ist also zu dem Schluss bekommen, dass »über« oder »hinter« allem, was wir um uns herum sehen, eine begrenzte Anzahl von Formen liegt. Diese Formen nannte Platon Ideen . Hinter allen Pferden, Schweinen und Menschen gibt es die »Idee Pferd«, die »Idee Schwein« und die »Idee Mensch«. (Und deshalb kann die erwähnte Bäckerei außer Pfefferkuchenmännlein auch Pfefferkuchenschweine und Pfefferkuchenpferde haben. Denn eine anständige Bäckerei hat oft mehr als nur eine Form. Aber eine einzige Form für jede Sorte Pfefferkuchen ist genug.)
Schlussfolgerung: Platon glaubte an eine eigene Wirklichkeit hinter der »Sinnenwelt«. Diese Wirklichkeit nannte er die Welt der Ideen . Hier finden wir die ewigen und unveränderlichen »Musterbilder«, die Urbilder hinter den verschiedenen Phänomenen, die uns in der Natur begegnen. Diese bemerkenswerte Auffassung bezeichnen wir als Platons Ideenlehre .
Sicheres Wissen
Bis jetzt bist du vielleicht noch mitgekommen, liebe Sofie. Aber hat Platon das wirklich ganz ernst gemeint, fragst du vielleicht. Hat er gemeint, dass solche Phänomene in einer ganz anderen Wirklichkeit existieren ?
Er hat das bestimmt nicht sein ganzes Leben lang so wortwörtlich gemeint, aber in einigen seiner Dialoge muss er einfach so verstanden werden. Wir wollen versuchen, seiner Argumentation zu folgen.
Ein Philosoph versucht, wie gesagt, etwas zu fassen zu bekommen, was ewig und unveränderlich ist. Es hätte zum Beispiel wenig Sinn, eine philosophische Abhandlung über das Dasein einer ganz bestimmten Seifenblase zu schreiben. Erstens würde man sie wohl kaum richtig untersuchen können, ehe sie plötzlich verschwunden wäre. Zweitens wäre es wahrscheinlich schwierig, eine philosophische Abhandlung über etwas, das niemand gesehen und das nur wenige Sekunden existiert hat, zu verkaufen.
Platon meinte, dass alles, was wir um uns herum in der Natur sehen, ja, alles, was wir anfassen und betasten können, mit einer Seifenblase verglichen werden kann. Denn nichts, was in der Sinnenwelt existiert, ist von Dauer. Dir ist natürlich klar, dass alle Menschen und Tiere früher oder später in Auflösung übergehen und sterben. Aber sogar ein Marmorblock zerfällt und wird langsam zersetzt. (Die Akropolis besteht aus Ruinen, Sofie! Skandalös, wenn du mich fragst. Aber so ist es.) Platon geht es darum, dass wir niemals sicheres Wissen über etwas gewinnen können, das sich verändert. Von dem, was der Sinnenwelt angehört – und das wir also anfassen und betasten können –, haben wir nur unsichere Meinungen. Sicheres Wissen können wir nur von dem haben, was wir mit der Vernunft erkennen.
Doch, doch, Sofie, ich werde das genauer erklären: Ein einzelnes Pfefferkuchenmännlein kann beim Teigrühren, Aufgehen und Backen so verunglücken, dass man gar nicht mehr genau sagen kann, was es darstellen soll. Aber nachdem ich zwanzig, dreißig Pfefferkuchenmänner gesehen habe – die also mehr oder minder perfekt sein können –, kann ich mit großer Sicherheit wissen, wie die Kuchenform aussieht. Das kann ich folgern, auch wenn ich die Form selber nie gesehen habe. Es steht nicht einmal fest, dass es besser wäre, die Form mit bloßem Auge zu sehen. Denn wir können uns nicht immer auf unsere Sinne verlassen. Die Sehfähigkeit kann von Mensch zu Mensch variieren. Dagegen können wir dem vertrauen, was die Vernunft uns erzählt, denn die Vernunft ist bei allen Menschen dieselbe.
Wenn du mit dreißig anderen Schülern in einem Klassenzimmer sitzt, und der Lehrer fragt, was die schönste Farbe im Regenbogen ist – ja, dann bekommt er sicher viele verschiedene Antworten. Aber wenn er fragt, wie viel drei mal acht ist, sollte die ganze Klasse dasselbe Ergebnis nennen. Jetzt urteilt nämlich die Vernunft und die Vernunft ist in gewisser Weise das genaue Gegenteil von Meinen und Fühlen. Wir können sagen, die Vernunft sei ewig und universell, eben weil sie sich nur über ewige und universelle Gegebenheiten ausspricht.
Platon hat sich überhaupt sehr für Mathematik interessiert. Und zwar, weil sich mathematische Gegebenheiten nie verändern. Deshalb können wir darüber auch sicheres Wissen haben. Aber
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