Sofies Welt - Roman über die Geschichte der Philosophie
nachdem sie über Platon gelesen hatte. Sie hatte das Gefühl, vorher farbenblind gewesen zu sein. Sie hatte vielleicht Schatten gesehen, nicht aber die klaren Ideen.
Sie war sich nicht so sicher, ob Platon mit allem, was er über die ewigen Musterbilder sagte, Recht hatte; aber sie fand es einen schönen Gedanken, dass alles Lebendige nur eine unvollkommene Kopie der ewigen Form in der Welt der Ideen sei. Schließlich stimmte es ja, dass alle Blumen und Bäume, Menschen und Tiere »unvollkommen« waren.
Alles, was sie um sich herum sah, war so schön und so lebendig, dass Sofie glaubte, sich die Augen reiben zu müssen. Aber nichts von dem, was sie hier sah, würde Bestand haben. Und dennoch – in hundert Jahren würde es hier dieselben Blumen und Tiere geben. Auch wenn jedes einzelne Tier und jede einzelne Blume ausgelöscht und vergessen sein würde, würde sich etwas daran »erinnern«, wie alles ausgesehen hatte.
Plötzlich sprang ein Eichhörnchen an einem Kiefernstamm hoch. Es wirbelte zweimal darum herum, dann verschwand es zwischen den Zweigen. Dich habe ich schon mal gesehen, dachte Sofie. Ihr war natürlich klar, dass sie wahrscheinlich nicht dasselbe Eichhörnchen schon einmal gesehen hatte – sie hatte sozusagen dieselbe »Form« gesehen. Warum sollte Platon also nicht Recht damit haben, dass sie einst in der Ideenwelt das ewige »Eichhörnchen« gesehen hatte – lange bevor ihre Seele sich in einem Körper niederließ?
Konnte es stimmen, dass sie schon einmal gelebt hatte? Hatte ihre Seele existiert, ehe sie einen Körper bekommen hatte, den sie nun mit sich herumschleppen musste? Konnte es stimmen, dass sie in sich einen kleinen Goldklumpen trug – ein Juwel, an dem die Zeit nicht zehrte, ja, eine Seele, die weiterlebte, wenn ihr Körper alt wurde und starb?
Die Majorshütte
... das Mädchen im Spiegel zwinkerte mit beiden Augen ...
Es war erst Viertel nach sieben. Sofie musste nicht nach Hause stürzen. Ihre Mutter würde sicher noch zwei Stunden schlafen, sonntags war sie immer so faul.
Ob sie tiefer in den Wald gehen sollte und versuchen, Alberto Knox zu finden? Aber warum hatte sein Hund sie so wütend angeknurrt?
Sofie stand von ihrem Baumstumpf auf und ging über den Waldweg, auf dem Hermes gelaufen war. In der Hand hielt sie den gelben Briefumschlag mit dem langen Brief über Platon. Zweimal teilte sich der Pfad, und sie nahm jedes Mal die größere der beiden Abzweigungen.
Überall zwitscherten die Vögel – in den Bäumen und in der Luft, in den Büschen und im Gestrüpp. Sie waren eifrig in ihre Morgentoilette vertieft. Bei denen gab es keinen Unterschied zwischen Werktag und Wochenende. Aber wer hatte den Vögeln das alles beigebracht? Hatte jeder einen kleinen Computer in sich, ein »Programm«, das ihnen sagte, was sie zu tun hatten?
Zuerst führte der Pfad über eine kleine Felskuppe, dann zwischen hohen Kiefern steil nach unten. Hier war der Wald so dicht, dass sie zwischen den Bäumen nur einige Meter weit sehen konnte.
Plötzlich entdeckte sie zwischen den Kiefernstämmen etwas Blaues. Sicher war es ein See. Hier bog der Pfad in die andere Richtung ab, aber jetzt ging Sofie zwischen den Bäumen weiter. Sie wusste nicht so Recht warum, aber ihre Füße führten sie in diese Richtung.
Der See war nicht größer als ein Fußballplatz. Ihr gegenüber, auf dem anderen Ufer, sah Sofie eine rot angestrichene Hütte auf einer kleinen, von weißen Birken umwachsenen Lichtung. Aus dem Schornstein stieg dünner Rauch.
Sofie ging bis ganz ans Wasser. Hier war der Boden fast überall sehr feucht, aber sie entdeckte bald ein Ruderboot. Es war halb an Land gezogen. Im Boot lag auch ein Paar Ruder.
Sofie sah sich um. Es schien unmöglich, trockenen Fußes um den See herum zur Hütte zu gelangen. Entschlossen ging sie zum Boot und schob es ins Wasser. Dann kletterte sie an Bord, legte die Ruder in die Ruderklampen und ruderte über den See. Bald hatte sie das andere Ufer erreicht. Sofie ging an Land und versuchte, auch das Boot aufs Trockene zu ziehen. Das Ufer hier war viel steiler als das auf der anderen Seite.
Sofie blickte nur einmal zurück, dann ging sie hinauf zur Hütte.
Sie war über sich selber erschrocken. Wie konnte sie sich das trauen? Sie wusste es nicht; etwas »anderes« schien sie zu führen.
Sofie ging zur Tür und klopfte an. Sie blieb eine Weile abwartend stehen, aber niemand machte auf. Nun fasste sie vorsichtig an die Türklinke und die Tür öffnete
Weitere Kostenlose Bücher