Sofies Welt - Roman über die Geschichte der Philosophie
nach. Ihr Kopf war wie ein lärmender Zirkus mit schwerfälligen Elefanten, witzigen Clowns, kühnen Trapezkünstlern und dressierten Affen. Ein Bild aber kehrte immer wieder: Ein kleines Ruderboot und ein Ruder schwimmen tief im Wald auf einem See – und jemand braucht das Boot, um nach Hause zu kommen ...
Sie war sicher, dass der Philosophielehrer ihr nicht übel wollte, und wenn ihm klar war, dass Sofie die Hütte besucht hatte, würde er ihr vielleicht verzeihen. Aber sie hatte eine Verabredung gebrochen. Das war ihr Dank dafür, dass der fremde Mann die Verantwortung für ihre philosophische Erziehung auf sich nahm. Wie konnte sie das wieder gutmachen?
Sofie griff zu ihrem rosa Briefpapier und schrieb:
Lieber Philosoph! Ich war Sonntag früh in der Hütte. Ich wollte dich so gern treffen, um einige philosophische Probleme genauer zu diskutieren. Vorläufig bin ich Platon-Fan, aber ich bin nicht so sicher, dass er Recht damit hatte, dass die Ideen oder Musterbilder in einer anderen Wirklichkeit existieren. Sie existieren natürlich in unserer Seele, aber das ist nach meiner vorläufigen Meinung etwas ganz anderes. Ich muss leider auch zugeben, dass ich noch nicht hinreichend davon überzeugt bin, dass unsere Seele wirklich unsterblich ist. Ich persönlich habe jedenfalls keine Erinnerungen an meine früheren Leben. Wenn du mich davon überzeugen könntest, dass es der Seele meiner verstorbenen Großmutter in der Ideenwelt gut geht, wäre ich sehr dankbar.
Ich habe eigentlich nicht der Philosophie zuliebe mit diesem Brief angefangen, den ich zusammen mit einem Stück Zucker in einen rosa Umschlag legen werde. Ich wollte nur um Verzeihung dafür bitten, dass ich ungehorsam war. Ich habe versucht, das Boot aufs Land zu ziehen, aber ich war offenbar nicht stark genug. Außerdem ist es ja möglich, dass eine kräftige Welle das Boot wieder ins Wasser geholt hat.
Ich hoffe, du bist trockenen Fußes nach Hause gekommen. Wenn nicht, dann kannst du dich damit trösten, dass ich klitschnass war und wahrscheinlich eine arge Erkältung bekommen werde. Aber daran bin ich ja selber schuld.
Ich habe nichts in der Hütte angefasst, aber ich bin leider der Versuchung erlegen, als ich den Briefumschlag mit meinem Namen gesehen habe. Nicht weil ich etwas stehlen wollte, sondern weil mein Name auf dem Brief stand, dachte ich einige verwirrte Sekunden lang, dass der Brief mir gehörte. Ich bitte aufrichtig um Entschuldigung und verspreche, dich nicht wieder zu enttäuschen.
PS. Ich werde mir alle Fragen sofort genau überlegen.
PPS. Ist der Messingspiegel über der weißen Kommode ein ganz normaler Spiegel oder ein Zauberspiegel? Ich frage nur, weil ich nicht so sehr daran gewöhnt bin, dass mein Spiegelbild mit beiden Augen zwinkert.
Grüße von deiner aufrichtig interessierten Schülerin SOFIE
Sofie las den Brief noch zweimal, ehe sie ihn in den Umschlag steckte. Er war jedenfalls nicht so feierlich wie der letzte. Ehe sie in die Küche ging, um ein Zuckerklümpchen zu mopsen, nahm sie noch einmal den Zettel mit den Aufgaben zur Hand.
»Was kommt zuerst – das Huhn oder die Idee ›Huhn‹?« Die Frage war fast genauso schwer wie das alte Rätsel mit dem Huhn und dem Ei. Ohne Ei gibt es kein Huhn, aber ohne Huhn gibt es auch kein Ei. War es wirklich genauso schwierig, herauszufinden, was zuerst dagewesen war, das Huhn oder die »Idee« Huhn? Sofie war klar, was Platon gesagt hätte. Er hätte gesagt, die Idee »Huhn« habe in der Ideenwelt schon längst existiert, ehe es in der Sinnenwelt ein Huhn gegeben habe. Platon zufolge hatte die Seele die Idee »Huhn« gesehen , ehe sie sich in einem Körper niedergelassen hatte. Aber hatte Sofie sich nicht gerade an dieser Stelle gedacht, dass Platon sich geirrt haben könnte? Ein Mensch, der nie ein lebendiges Huhn oder ein Bild von einem Huhn gesehen hat, kann doch auch keine »Idee« von einem Huhn haben. Und damit war sie bei der nächsten Frage angelangt.
»Hat der Mensch angeborene Ideen?« Sehr zweifelhaft, dachte Sofie. Sie konnte sich kaum vorstellen, dass ein frischgeborenes Baby über einen reichen Ideenschatz verfügte. Man konnte natürlich nicht ganz sicher sein, denn auch wenn das Kind keine Sprache hatte, musste das noch nicht bedeuten, dass es in seinem Kopf keine Ideen gab. Aber wir müssen doch die Dinge auf der Welt erst sehen, ehe wir etwas über sie wissen können?
»Was ist der Unterschied zwischen einer Pflanze, einem Tier und einem Menschen?«
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