Sofies Welt - Roman über die Geschichte der Philosophie
Sofie sah sofort ein, dass es hier ziemlich klare Unterschiede gab. Sie glaubte zum Beispiel nicht, dass eine Pflanze ein besonders kompliziertes Seelenleben hatte. Wann hatte sie je von einer Glockenblume mit Liebeskummer gehört? Eine Pflanze wächst, sie nimmt Nahrung auf und produziert kleine Samenkörner, durch die sie sich vermehrt. Und damit ist wohl das meiste über das Wesen der Pflanzen gesagt. Sofie überlegte sich, dass alles, was sie über die Pflanzen gesagt hatte, doch wohl auch für Tiere und Menschen galt. Aber die Tiere hatten außerdem noch andere Eigenschaften. Sie konnten sich zum Beispiel bewegen (wann hätte je eine Rose an einem 60-Meter-Lauf teilgenommen?). Es war schon schwieriger, den Unterschied zwischen einem Menschen und einem Tier aufzuzeigen. Die Menschen konnten denken, aber das konnten Tiere doch auch? Sofie war davon überzeugt, dass ihre Katze Sherekan denken konnte. Sie konnte sich jedenfalls ganz schön berechnend aufführen. Aber konnte sie über philosophische Fragen nachdenken? Konnte die Katze sich den Unterschied zwischen einer Pflanze, einem Tier und einem Menschen überlegen? Wohl kaum! Eine Katze konnte sicher froh oder traurig sein – aber fragte sich die Katze, ob es einen Gott gab oder ob sie eine unsterbliche Seele hatte? Sofie fand das ungeheuer zweifelhaft. Aber hier galt natürlich dasselbe wie für das Baby und die angeborenen Ideen. Mit einer Katze war es genauso schwer, über diese Ideen zu reden, wie mit einem neugeborenen Baby.
»Warum regnet es?« Sofie zuckte mit den Schultern. Es regnet sicher, weil das Meer verdampft und weil sich die Wolken zum Regen verdichten. Hatte sie das nicht schon in der dritten Klasse gelernt? Man konnte natürlich auch sagen, es regnete, damit Tiere und Pflanzen wachsen konnten. Aber stimmte das? Hatte ein Regenschauer denn eine Absicht?
Die letzte Aufgabe hatte jedenfalls etwas mit Absichten zu tun. »Was braucht der Mensch, um ein gutes Leben zu führen?« Das hatte der Philosophielehrer schon ziemlich zu Anfang des Kurses geschrieben. Alle Menschen brauchen Essen, Wärme, Liebe und Fürsorge. Das war jedenfalls die Grundbedingung für ein gutes Leben. Dann hatte er darauf hingewiesen, dass alle außerdem die Antworten auf gewisse philosophische Fragen brauchen. Dazu war es wohl ziemlich wichtig, einen Beruf zu haben, den man leiden mochte. Wenn man zum Beispiel den Verkehr hasste, wurde man als Taxifahrer wohl kaum sehr glücklich. Und wenn man Hausaufgaben hasste, war Lehrer sicher keine schlaue Berufswahl. Sofie liebte Tiere, und deshalb konnte sie sich gut vorstellen, Tierärztin zu werden. Sie hielt es jedenfalls nicht für notwendig, im Lotto eine Million zu gewinnen, um ein gutes Leben zu führen. Vielleicht eher im Gegenteil. Es gab schließlich das Sprichwort: »Müßiggang ist aller Laster Anfang.«
Sofie blieb auf ihrem Zimmer sitzen, bis ihre Mutter sie zum Essen rief. Sie hatte Koteletts gebraten und Kartoffeln gebacken. Lecker! Sie hatte auch eine Kerze angezündet. Zum Nachtisch sollte es Multebeerencreme geben.
Sie sprachen über alles Mögliche. Die Mutter fragte, wie Sofie ihren fünfzehnten Geburtstag feiern wolle. Bis dahin waren es nur noch wenige Wochen.
Sofie zuckte mit den Schultern.
»Möchtest du irgendwen einladen? Möchtest du denn kein Fest veranstalten, meine ich.«
»Vielleicht ...«
»Wir könnten Marte und Anne-Marie einladen ... und Hege ... und Jorunn natürlich. Und Jørgen vielleicht ... Aber das musst du selber entscheiden. Weißt du – ich weiß noch so gut, wie ich selber fünfzehn geworden bin. Und mir kommt das noch gar nicht so lange her vor. Schon damals habe ich mich erwachsen gefühlt, Sofie. Ist das nicht seltsam? Ich finde nicht, dass ich mich seitdem so sehr verändert habe.«
»Das hast du auch nicht, nichts ›verändert‹ sich. Du hast dich nur entwickelt, bist älter geworden ...«
»Hm ... ja, wie erwachsen das klingt. Ich finde nur, es ist so schrecklich schnell gegangen.«
Aristoteles
... ein peinlich genauer Mann der Ordnung, der in den Begriffen der Menschen aufräumen wollte ...
Während ihre Mutter Mittagsschlaf hielt, ging Sofie in die Höhle. Sie hatte ein Stück Zucker in den rosa Briefumschlag gesteckt und »An Alberto« darauf geschrieben.
Es war kein neuer Brief gekommen, aber nach wenigen Minuten hörte Sofie, dass der Hund sich näherte.
»Hermes!«, rief Sofie; im nächsten Moment schlüpfte Hermes auch schon mit einem großen, gelben
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