Sofies Welt - Roman über die Geschichte der Philosophie
versank sie bis zur Mitte ihrer Waden im Wasser. Aber sie musste einfach weiter. Sie musste nach Hause.
Nach einer Weile stolperte sie auf einen Weg. Ob das der Weg war, den sie gekommen war? Sofie blieb stehen und wrang ihr Kleid aus. Erst jetzt kamen ihr die Tränen.
Wie hatte sie so blöd sein können? Das Schlimmste von allem war das mit dem Boot. Immer wieder sah sie ein Ruderboot und ein Ruder vor sich, die auf dem See herumtrieben. Alles war so peinlich, so eine Schande ...
Jetzt war der Philosophielehrer wohl schon zum See zurückgekommen. Er brauchte das Boot, um nach Hause zu gelangen. Sofie kam sich unmöglich vor. Aber sie hatte das doch nicht extra gemacht.
Der Briefumschlag! Das war vielleicht noch schlimmer. Warum hatte sie den Briefumschlag mitgenommen? Weil ihr Name darauf stand, natürlich, deshalb musste er doch auch ein bisschen ihr gehören. Trotzdem kam sie sich vor wie eine Diebin. Und jetzt stand außerdem fest, dass sie in der Hütte gewesen war.
Sofie zog einen Zettel aus dem Briefumschlag. Darauf stand:
Was kommt zuerst – das Huhn oder die Idee »Huhn«?
Hat der Mensch angeborene Ideen?
Was ist der Unterschied zwischen einer Pflanze, einem Tier
und einem Menschen?
Warum regnet es?
Was braucht der Mensch, um ein gutes Leben zu leben?
Sofie konnte über diese Fragen jetzt nicht nachdenken, aber sie ging davon aus, dass sie mit dem nächsten Philosophen zu tun hatten. War das nicht der, der Aristoteles hieß?
Als sie nach dem endlosen Lauf durch den Wald die Hecke entdeckte, kam sie sich vor wie eine Schiffbrüchige, die an Land schwimmt. Es war seltsam, die Hecke von der anderen Seite zu sehen. Erst als sie in die Höhle kroch, sah sie auf die Uhr. Es war halb elf. Den großen Briefumschlag legte sie zu den anderen Papieren in die Kuchendose. Den Zettel mit den neuen Fragen stopfte sie in ihre Strumpfhose.
Die Mutter saß am Telefon, als Sofie hereinkam. Sie legte auf.
»Wo hast du denn bloß gesteckt, Sofie?«
»Ich ... hab einen Spaziergang gemacht ... im Wald«, stotterte Sofie.
»Ja, stell dir vor, das sehe ich.«
Sofie schwieg; sie sah, wie das Wasser von ihrem Kleid tropfte.
»Ich musste Jorunn anrufen ...«
»Jorunn?«
Die Mutter holte ihr etwas Trockenes zum Anziehen. Sofie konnte nur mit Mühe und Not den Zettel ihres Philosophielehrers verstecken. Sie setzten sich in die Küche, die Mutter kochte Kakao.
»Warst du mit ihm zusammen?«, fragte sie dann.
»Mit ihm?«
Sofie dachte nur an den Philosophielehrer.
»Mit ihm , ja. Mit deinem ... ›Kaninchen‹.«
Sofie schüttelte den Kopf.
»Was macht ihr, wenn ihr zusammen seid? Warum bist du so nass?«
Sofie saß ganz ernst da und starrte die Tischplatte an, aber an einer geheimen Stelle in ihr saß doch etwas, das lachte. Arme Mama, was die sich für Sorgen machte!
Wieder schüttelte sie den Kopf. Und nun kamen die Fragen am laufenden Band.
»Jetzt will ich die ganze Wahrheit hören! Warst du heute Nacht unterwegs? Hast du dich reingeschlichen, als ich ins Bett gegangen war? Du bist erst vierzehn, Sofie. Jetzt will ich wissen, mit wem du zusammen bist!«
Sofie fing an zu weinen. Dann erzählte sie. Sie hatte immer noch Angst, und wenn man Angst hat, sagt man in der Regel die Wahrheit.
Sie erzählte, dass sie früh aufgewacht war und einen Waldspaziergang gemacht hatte. Sie erzählte von der Hütte und dem Boot und auch von dem seltsamen Spiegel. Aber sie schaffte es, alles zu verschweigen, was mit dem geheimen Briefkurs zu tun hatte. Auch die grüne Brieftasche erwähnte sie nicht. Sie wusste nicht so recht warum, aber das mit Hilde musste sie einfach für sich behalten.
Die Mutter nahm sie in den Arm. Sofie begriff, dass sie ihr jetzt glaubte.
»Ich habe keinen Freund«, schniefte sie. »Das habe ich bloß gesagt, damit du dir nicht solche Sorgen wegen dem weißen Kaninchen zu machen brauchtest.«
»Und du bist wirklich bis ganz zur Majorstua gegangen ...«, sagte die Mutter nachdenklich.
»Zur Majorstua?« Sofie riss die Augen auf.
»Die kleine Hütte, die du im Wald entdeckt hast, wird ›Majorstua‹ genannt, die ›Majorshütte‹. Vor vielen, vielen Jahren hat da nämlich ein alter Major gewohnt. Er war ein wenig verschroben und eigen, Sofie. Aber daran wollen wir jetzt nicht denken. Seither steht die Hütte leer.«
»Glaubst du, ja. Aber jetzt wohnt darin ein Philosoph.«
»Nein, jetzt fang nicht wieder an zu phantasieren.«
Sofie saß in ihrem Zimmer und dachte über ihre Erlebnisse
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