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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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jedoch nicht schroff und bedrohlich, wie Jari ihn sich vorgestellt hatte. Mit seinen abgerundeten Kanten wirkte er wie ein Gebilde aus Wachstropfen, übergroßen Wachstropfen, die vom Himmel gefallen waren, einer über den anderen.
    »Der Bär steht, sagt man«, erklärte das Mädchen. »Er ist vor langer Zeit aus dem Wald gekommen und einfach dort stehen geblieben, versteinert, als das Licht auf ihn fiel. Er brauchte die Schatten des Waldes zum Leben.« Sie lachte. »Da ist die Bank, auf der die Touristen ausruhen, siehst du? Man hat eine schöne Aussicht von hier. Möchtest du ausruhen?«
    Die Bank war aus hellem Holz, sie musste vor Kurzem erneuert worden sein. Ein Papierkorb stand daneben, mit zwei Plastiktrinkpäckchen darin. Jari hätte gern ein wenig auf der Bank gesessen und ins Tal hinabgesehen. Er war verschwitzt vom Aufstieg. Er griff in seine Tasche, wollte das Handy herausholen und nachsehen, wie lange sie gebraucht hatten, um die Sturmhöhe zu erreichen. Doch dann ließ er es. Der Blick des Mädchens, der auf ihm ruhte, hatte etwas Irritierendes, und das Handy, der Papierkorb, die Bank kamen Jari auf einmal dumm vor.
    »Nein«, sagte er. »Ich muss nicht ausruhen. Gehen wir weiter.«
    »Überleg es dir gut. Es ist der letzte Ausblick vor den Schatten«, wiederholte sie. »Im Wald scheint die Sonne anders.«
    Er schüttelte den Kopf und ging voraus, folgte dem Weg, am Bärenfelsen vorbei, unter die Bäume.
    Ja, hier begann er. Der Wald.
    Der Weg stieg jetzt nur noch sacht an, aber er war schmaler geworden. Das Mädchen holte Jari mit zwei Schritten ein. Auf einmal schien sie es noch eiliger zu haben. Sie lief ihm voraus wie ein Hund, wie ein Kind, um eine Kurve – und beinahe glaubte er schon, er würde sie nicht mehr finden, wenn er selbst um die Kurve kam. Doch da stand sie, umgeben vom schützenden, dichten Grün der Zweige, und sah ihm entgegen. Und lächelte wieder; ihr schräges, seltsames Lächeln. Dann setzte sie die Kiepe ab.
    Jari blieb ebenfalls stehen. Er begriff nicht, was geschah.
    Da hob sie die Hand zu ihrem rechten Mundwinkel, ihre Nägel schienen etwas zu suchen, eine Unebenheit der Haut … Sie fanden sie, und mit einem Ruck zog das Mädchen etwas ab, das Jari zuvor nicht bemerkt hatte, eine Art durchsichtiges Pflaster. Er zuckte zusammen. Es musste wehtun. Doch sie lächelte, anders jetzt. Sie lächelte nicht mehr schräg. Sie nahm die übergroße Brille mit den dicken Gläsern ab und ließ sie fallen, löste beinahe gleichzeitig das grau gemusterte Kopftuch und schüttelte ihr Haar aus.
    »Wa  … was …«, begann Jari und brach ab.
    Das Haar des Mädchens war lang und glänzend schwarz. Die wenigen strohigen blonden Strähnen hatte sie mit dem Kopftuch gelöst. Ihre Augen waren nicht mehr klein und weit fort, sie waren groß, tief und dunkel, und ehe Jari noch etwas sagen oder denken konnte, hatte sie sich auch die Strickjacke vom Leib gerissen und ließ das verblichene Kleid zu Boden gleiten. Sie stieg daraus empor wie aus einem Strudel hässlich gemeinen grauen Wassers. Sie war nicht nackt. Sie trug noch ein Kleid unter dem ersten, ein Kleid von der Farbe der Baumrinde im Schatten, tiefbraun und eng an ihrem Körper anliegend. Ihr Körper. Ihr Körper war plötzlich ein anderer. Schlank und biegsam war er, der Rücken gerade, die Haltung aufrecht wie die einer Tänzerin. Unter dem Kleid zeichneten sich beinahe ein wenig zu deutlich ihre Brüste ab. Sie hob die Hände über den Kopf, streckte und dehnte sich wie nach langem Schlaf und schüttelte als Letztes die schweren schwarzen Schuhe ab. Ihre Beine waren genau gleich lang.
    Sie stand vor ihm, barfuß, strich die schwarzen Wellen ihres Haares zurück und sah ihn an.
    »Das … das ist nicht wahr«, flüsterte Jari.
    Sie lachte ihr Glöckchenlachen, laut, übermütig, noch klarer als zuvor, sie lachte über sein dummes Gesicht. Vermutlich stand er mit offenem Mund da.
    »Es ist nicht gut«, sagte sie, »wenn die Leute im Dorf zu genau wissen, wer man ist.«
    Jari sah von dem Mädchen zu dem Haufen Kleider auf dem Boden und zurück.
    Es war eine unglaubliche Verwandlung.
    Die junge Frau, die er jetzt vor sich hatte, war nicht nur nicht mehr hässlich. Sie war das Schönste, was er je gesehen hatte. Schöner als die Nacht. Schöner als der Mond. Schöner als die Sonne. Schöner sogar als die Idee der Schönheit. Sie war perfekt. So perfekt, dass sie ihm beinahe Angst machte. Sie breitete die Arme aus und wirbelte einmal im

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