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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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altmodisch gewesen wäre. Vorn ragten ein paar kurze, strohig blonde Haarsträhnen darunter hervor.
    Er dachte an die Schönheit des Waldes auf dem Bild. Das Mädchen war in allem das Gegenteil. Ich habe, dachte er, noch nie ein so hässliches Mädchen gesehen. Es war natürlich nicht ihre Schuld. Eine Laune der Natur hatte sie zu dem gemacht, was sie war. Du Glückliche, dachte er, du bist sicher vor Jari, dem Verführer, Jari, dem Raubtier. Beinahe lachte er laut über sich selbst. Harr. Jari, das Raubtier mit den Tischlerhänden, der Verführer mit der Mutter, die noch immer seine Hemden bügelt.
    »Welchen Weg wirst du nehmen, mein Junge?«, fragte die Frau mit den grauen Löckchen.
    »Ich dachte, ich gehe hinauf zum großen Bären, über die Sturmhöhe«, antwortete er und lauschte den Worten nach. Sie klangen in seinen Ohren wie das Rauschen der Bäume im Wind, wie Gewitterwolken, wie der Beginn von etwas Großartigem. Er war noch nie hier gewesen. Die klingenden Worte stammten aus dem Reiseführer, den sein Vater ihm geschenkt hatte. Er hatte ihn zu Hause liegen lassen. Mit voller Absicht.
    »Danach … weiß ich noch nicht. Der Wald wird entscheiden.«
    »Lass dich nicht vom Bären fressen«, sagte das hässliche Mädchen leise und lachte wieder ein Glöckchenlachen. Ihre Worte, dachte Jari, passen nicht ganz zu ihrem Äußeren, sie sind zu keck, zu … Er wusste nicht, was. »Lass dich nicht vom Sturm davonwehen!«
    Die Galeristin lachte ebenfalls, und ihr ganzer ausladender violetter Wollleib zitterte dabei.
    »Der Bär ist nur ein Felsen. Aber das weißt du sicher. Und die Sturmhöhe ist erstaunlich windstill. Ein schöner Platz mit einer Bank, um zu rasten.« Sie wandte sich an das Mädchen. »Gehst du nicht auch dort entlang?«
    Das Mädchen nickte. Sie hatte inzwischen alle Schnallen an ihrem Rucksack festgezurrt. Als sie sich – ein wenig mühsam – wieder aufrichtete, sah Jari, dass es kein Rucksack war. Es war eine altmodische Kiepe aus Holz und Lederriemen, ein Museumsstück. Er ließ seinen Blick wieder über das altmodische Kleid und die unförmige Strickjacke gleiten, über das Kopftuch. Vielleicht war sie Mitglied in irgendeiner Sekte, in irgendeinem abgelegenen kleinen Ort, in dem die Leute Dinge wie Handys und Fernsehen dem Teufel zuschrieben und bestritten, dass der Mensch vom Affen abstammte. Natürlich, dies war der beste Ort für solche Menschen, ein Gebirgszug voller alter Sagen und Märchen, ein Gebiet jenseits von Zeit und Gesetzen …
    »Du solltest mit dem Bus fahren«, sagte die Frau mit den Löckchen. »Natürlich ist es ein Umweg, die Vögel, die über den Wald fliegen, haben es kürzer; die Straße führt außen herum. Aber du bist kein Vogel, mein Kind. Der Weg durch den großen Wald ist zu mühsam.«
    »Das ganze Leben ist zu mühsam«, erwiderte das Mädchen und lächelte. Das Lächeln verzog ihren Mund zu einer seltsam schiefen Linie, als ließe sich einer ihrer Mundwinkel nicht richtig bewegen. »Du weißt, dass ich die Luft brauche. Und die Bewegung ist gut für die Beine … stärkt auch die Muskeln im Rücken …«
    »Werde mir nur nicht zu stark, mein armes Lamm«, sagte die Frau mit den Löckchen, ihre Stimme eine bittere Mischung aus Ironie und Mitleid. »Irgendwann brichst du dir dein Rückgrat mit dieser Kiepe. Ich verstehe nicht, weshalb du nicht jemand anderen die Bilder bringen lässt.«
    »Doch, das verstehst du«, sagte das Mädchen. »Du vertraust deine Galerie auch niemandem an.« Sie schulterte die Kiepe und nickte zum Abschied. »In einem Monat komme ich wieder. Dann sprechen wir über das Geld. Falls sie verkauft werden.«
    »Sie werden immer verkauft«, sagte die Frau. »Diese Bilder immer. In einem Monat dann …« Sie hievte ihr Wollkleid von dem kleinen Stuhl und hielt die Tür der Galerie auf.
    »Und du?«, fragte sie, als fiele ihr Jaris Existenz erst jetzt wieder ein. »Gehst du auch? Über die Sturmhöhe, zum großen Bären?«
    Jari hörte den Spott in ihrer Frage. »Ja«, sagte er fest. »Ja, ich gehe auch.«
    »Dann habt ihr ein Stück des Weges gemein«, sagte die Frau. »Wie wäre es, wenn du ihr die Kiepe trägst?«
    »Ja. Ja, natürlich.« Er machte einen Satz zur Tür und fiel beinahe die Stufen herunter. Er hätte selbst darauf kommen können. »Warte! Warte, ich helfe dir …«
    Er sah, wie die Frau mit den Löckchen zufrieden nickte, ehe sie die Tür hinter ihm schloss. Das Silberglöckchen klingelte wieder.
    Dann stand Jari in

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