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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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ein zu schnelles Erreichen des Ziels. Er hatte keines der Mädchen wirklich und in ihrer Gesamtheit gesehen und ihre Gesichter vergessen. Bei Matti blieben sie, bei Jari war nie eine geblieben.
    Jetzt, jetzt würde alles anders werden. Er würde ein wirkliches Abenteuer erleben. Drei Wochen absoluter Freiheit lagen vor ihm. Hier, wo der Wald die Grenzen zwischen den Ländern verwischte, wo es keinen Unterschied mehr gab zwischen Polen, Tschechien oder Deutschland. Er wusste noch nicht, in welchem Ort seine Wanderung enden würde und welche Sprache die Mädchen dort sprachen, er würde den Wald und die Berge entscheiden lassen; die Ungewissheit hatte etwas durchaus Reizvolles.
    Matti hatte mitkommen wollen, aber dann war er doch zu Hause geblieben, und nun war Jari dankbar dafür. Matti gehörte in die Welt der Holzbretter und Hobelspäne, in die Welt, in die auch Jaris Eltern gehörten und in die Jari zurückkehren würde, vermutlich für immer. Diese drei Wochen waren seine letzte Chance, eine Weile aus der Holzbretterwelt auszubrechen, so zu tun, als käme da noch etwas anderes. Er war voll Unternehmungslust. Es war Herbst, aber für ihn war es beinahe Frühling: Alles begann. Seine Wanderung begann, seine Freiheit begann, sein Leben begann.
    Als er die Tür der kleinen Galerie öffnete, ertönte das helle Klingeln eines Silberglöckchens. Er ahnte nicht, dass damit bereits alles entschieden war. Und wie bald seine Freiheit enden würde.
    Sein Name war Jari.
    Er war mit dem Zug gekommen, in Zittau war er zum letzten Mal umgestiegen.
    Er war achtzehn Jahre alt.
    »Weißt du, wohin sie uns bringen?«, sagte das erste kleine Mädchen.
    »Woher soll ich das wissen?«, sagte das zweite kleine Mädchen.
    »Du bist die Älteste«, sagte das dritte kleine Mädchen.
    »Es ist sehr dunkel«, sagte das erste kleine Mädchen.
    »Da, wo sie uns hinbringen, wird es noch dunkler sein«, sagte das zweite kleine Mädchen.
    »Woher weißt du das?«, fragte das dritte kleine Mädchen.
    »Ich bin die Älteste«, sagte das zweite kleine Mädchen.
    Sie saßen ganz still. Sie wagten nicht, sich zu rühren, wie die Blätter im Wald, wenn etwas sie erschreckt hat: der Donner oder das Fallen eines Baumes, den der Sturm entwurzelt. Oder der Todesschrei eines Tieres. Es war nicht viel Raum, wo sie saßen. Sie brauchten nicht einmal diesen Raum, sie kauerten dicht beieinander. Sie waren nicht drei, sie waren wie eins, ein winziges, zitterndes Geschöpf in der Dunkelheit.
    »Sie werden uns töten«, sagte das zweite kleine Mädchen.
    »Nein«, sagte das dritte kleine Mädchen.
    »Ja«, sagte das erste kleine Mädchen.
    »Er kommt und holt uns«, sagte das dritte kleine Mädchen.
    »Er ist weit weg«, sagte das zweite kleine Mädchen.
    »Sie werden ihn rufen«, sagte das erste kleine Mädchen.
    Dann sagten sie nichts mehr. Sie schwiegen. Die Dunkelheit war dicht, und der Boden war kalt, und die Tür war verschlossen, sie wussten es genau. Es war ein Keller, es musste ein Keller sein. Da war ein Geruch von Feuchtigkeit, ein Geruch wie eine Erinnerung. Einmal, vor sehr langer Zeit, hatte er einen Spaziergang mit ihnen gemacht, im Wald. Es war Herbst gewesen, und der Wald hatte so gerochen … Wonach hatte der Wald gerochen? Nach Pilzen? Nach fallendem Laub? Nach seinen großen, schützenden Händen? Sie konnten sich nicht erinnern. Der Wald war eine unbekannte Welt voller Geheimnisse. Die Welt, die sie kannten, bestand aus zu großen Häusern mit zu hohen Decken und zu wenigen Möbeln. Viele solche Häuser hatten sie gekannt, sie waren alle anders und alle gleich, die Bediensteten sprachen alle verschiedene Sprachen und sprachen doch dieselbe, und keines der Häuser war wie der Wald an diesem einen goldenen Herbsttag gewesen.
    »Wir müssen uns festhalten«, flüsterte das erste kleine Mädchen.
    »Ganz fest«, flüsterte das zweite.
    »Nicht loslassen«, flüsterte das dritte.
    Und sie legten die Arme umeinander, betteten die Köpfe aufeinander, atmeten den Atem der anderen in der feuchten Dunkelheit. Und keines von ihnen wusste, ob sie den Morgen erleben würden.
    Das Herbstlicht füllte die winzige Galerie auf erstaunliche Weise mit flüssigem Gold.
    Jari blieb einen Moment lang mitten im Raum stehen und sah sich um. Die Galerie maß nicht viel mehr als ein paar Quadratmeter. An den rau verputzten, weiß gestrichenen Wänden hingen mehr Bilder, andere Bilder, die meisten kleiner als das Bild im Fenster. Es waren öde Abbildungen heimischer

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