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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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ihr Haar wie ein schwarz glänzender Pinselstrich auf dem Waldbild, das sie durchquerte. Er rannte ihr nach, froh, dass der Weg hier wieder trocken und eben war.
    »Holz hacken!«, rief sie. »Wasser tragen! Mauern ausbessern! Bären jagen!« Sie drehte sich nach ihm um. »Manche versteinern, wenn man auf sie schießt.«
    »Gibt es hier Bären?«
    Sie zuckte die Schultern. »Wölfe gibt es. Sie hatten sie schon ausgerottet hier, aber es sind wieder welche eingewandert, von Polen her. Jetzt sind sie geschützt, und sie vermehren sich. Die Menschen in den Dörfern haben Angst vor ihnen.«
    »Und du?«, fragte Jari und wurde sich gleichzeitig bewusst, was sie zuvor gesagt hatte. Allein im Wald. Auf sich gestellt. Mauern ausbessern. »Warte«, sagte er. »Die Menschen in den Dörfern? Bist du denn keine von ihnen?«
    »Aber nein.« Sie schüttelte den Kopf und ließ ihr glänzendes schwarzes Haar wieder fliegen. »Ich lebe nicht in einem Dorf, auch wenn die Galeristin das glaubt. Ich habe es dir schon gesagt: Es ist nicht gut, wenn die Leute zu viel über einen wissen. Ich … ich lebe im Wald.«
    »Im Wald?«
    Es hätte ihn nicht erstaunt, wenn sie in die Krone einer Buche oder einer Eiche hinaufgezeigt hätte, wenn sie gesagt hätte: Dort oben, siehst du? Dort oben ist mein Nest.
    »Es gibt ein Haus da, ein altes Haus. Es ist jetzt nur noch mein Haus. Mein Vater … ist gestorben.«
    »Das tut mir leid.«
    Sie zuckte die Schultern. »Es ist eine Weile her.«
    »Eine Weile?« Wie lang war die Weile, die sie allein im Wald lebte? »Wie alt bist du?«, fragte er.
    »Ich habe vor zwei Wochen meinen achtzehnten Geburtstag gefeiert.«
    Jari nickte. »Dann sind wir beinahe genau gleich alt. Jascha und Jari.«
    Sie gingen langsam weiter, ernster jetzt.
    »Jari und Jascha«, wiederholte sie. »Der Zeisig und …«
    »Die Nachtigall«, sagte er.
    »Warum? Warum die Nachtigall? Du hast es schon einmal gesagt. Wie kommst du darauf?« Beinahe klang sie wütend.
    »Oh, wenn du lieber etwas anderes bist … Jascha, die Schnepfe?«, schlug er vor, grinsend. »Oder Jascha, die Zaunkönigin?«
    »Zäune«, erwiderte sie, »haben wir keine in diesem Wald.«
    Etwas raschelte ganz nah im Dickicht, etwas Großes, und Jari fiel erst jetzt auf, dass der Wald um sie dichter geworden war. »Ein Reh«, flüsterte Jascha. »Oder ein Hirsch.«
    »Ein Reh … kein Mensch?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Menschen gibt es nur wenige hier.«
    Auf einmal schien sie zu frieren, er sah sie zittern, und sie griff in eine der Taschen ihrer altmodischen Kiepe und brachte einen Mantel zum Vorschein, den sie um sich schlang, ehe sie weiterging. Der Mantel war, wie Jascha selbst, wie der Wald, atemberaubend schön. Es war, als hätte jemand in seinem Stoff alle Pflanzen und Tiere des Waldes verwoben. Jari sah einen Fuchs zwischen den Ranken auf ihrem Ärmel hindurchspähen, er sah tausend kleine Vögel zwischen den blühenden Ästen auf ihrem Rücken nisten, beinahe hörte er sie singen. Er sah ein Wiesel durch den Efeu am Saum huschen, er sah Augen im gewebten, bestickten Dickicht. Jascha setzte die Kiepe wieder auf.
    »Komm mit«, sagte sie.
    »Ja«, sagte Jari. »Lass uns weitergehen. Dieser Teil des Waldes ist zu kühl und zu schattig.«
    »Ich meine nicht: Lass uns weitergehen. Ich meine: Komm mit mir«, wiederholte sie. »Zu dem Haus im Wald. Es ist ein wenig einsam dort.« Sie flüsterte jetzt. »Komm mit mir, nur für eine Nacht. Verjag die Einsamkeit.«
    Er nickte. »Ich könnte ein Bett für die Nacht brauchen. Warum nicht ein Bett in einem Haus im Wald.«
    Und während sie weitergingen, sang es in Jaris Herzen, ein übermütiges Zeisiglied. Er ging mit dem schönsten Mädchen der Welt, er, ein einfacher Tischlergeselle, ein brauner, unscheinbarer Vogel. Er war es, den sie auserwählt hatte, ihr zu folgen. Aber gleichzeitig war ihm merkwürdig kalt, als brauchte auch er einen Mantel, gewebt aus der Schönheit des Waldes.
    Kehr um, sagte die Stimme seiner Mutter, die aus einer Welt zwischen bestickten Tischtüchern und gestärkten Hemden zu ihm drang, kehr um, mein Junge, solange du noch kannst.
    Er ignorierte die Stimme. Er verjagte die Kälte und betrank sich an Jaschas Schönheit: dem Licht, das auf ihren Haaren spielte, den Falten des Stoffes um ihre Gestalt. Sie war wie ein bewegtes Gemälde. Ach was, dachte er und warf alle Bedenken über Bord. Er konnte seinen Plan genauso gut ändern. Zuerst das Mädchen, dann die Wanderung: ein

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