Soldaten
über Flugzeuge, Bomben, Radargeräte, Städte, Landschaften und Frauen.
MÜLLER : Als ich in Charkow war, war alles bis auf die Innenstadt zerstört. Eine herrliche Stadt, eine herrliche Erinnerung. Alle Leute sprachen etwas Deutsch – in der Schule gelernt. Auch in Taganrog – herrliche Kinos und wundervolle Strandcafes. [...] Dort, wo Don und Donetz zusammenfließen, da sind wir viel geflogen, da war ich überall. Schön ist die Landschaft – im LKW war ich überall. Da sah man nichts als Frauen, die Pflichtsarbeitsdienst machten.
FAUSST : Ach, du Scheiße!
MÜLLER : Straßen haben die gemacht, mordsschöne Mädels – da sind wir vorbeigefahren, haben sie einfach in den PKW hereingerissen, umgelegt und dann wieder rausgeschmissen. Mensch, was haben die geflucht! [3]
So sind Männergespräche. Die beiden Soldaten, ein Gefreiter und ein Feldwebel der Luftwaffe, unterhalten sich über die touristischen Aspekte des Russlandfeldzugs – von »herrlichen Städten« und »herrlichen Erinnerungen« ist die Rede. Plötzlich handelt die Geschichte von spontanen Vergewaltigungen von Zwangsarbeiterinnen; der Gefreite erzählt das wie eine kleine, beiläufige Anekdote und fährt dann fort mit seiner Reisebeschreibung. Das beschreibt den Raum des Sagbaren und des Erwartbaren in den abgehörten Gesprächen: Nichts von der berichteten Gewalt gegen andere verstößt gegen Erwartungen der Zuhörer. Geschichten vom Erschießen, Vergewaltigen, Rauben gehören in den Alltagsbereich der Kriegserzählungen; fast nie kommt es bei solchen Themen zu Auseinandersetzungen, moralischen Einwänden, gar Streitigkeiten. Die Gespräche, so gewaltvoll ihre Inhalte oft sind, verlaufen stets harmonisch; die Soldaten verstehen sich, teilen dieselbe Welt, tauschen sich aus über die Geschehnisse, die sie beschäftigen, und Dinge, die sie gesehen oder getan haben. Diese erzählen und interpretieren sie in historisch, kulturell und situativ spezifischen Rahmen: den Referenzrahmen.
Die wollen wir in diesem Buch rekonstruieren und beschreiben – um zu verstehen, was die Welt der Soldaten war, wie sie sich selbst und ihre Gegner gesehen haben, was sie über Adolf Hitler und den Nationalsozialismus dachten, warum sie weiterkämpften, auch dann noch, als der Krieg bereits verloren schien.
Und wir wollen untersuchen, was an diesen Referenzrahmen »nationalsozialistisch« war – ob man es also bei diesen meist freundlichen und gutmütigen Männern in den Gefangenenlagern mit »Weltanschauungskriegern« zu tun hat, die ausgezogen sind, um in einem »Vernichtungskrieg« unterschiedslos rassistische Verbrechen zu begehen und Massaker zu verüben. Inwieweit entsprechen sie dem in den 1990er Jahren von Daniel Goldhagen gezeichneten Bild von den »willigen Vollstreckern« oder dem differenzierteren, das die beiden »Wehrmachtausstellungen« des Hamburger Instituts für Sozialforschung sowie eine Unzahl historischer Einzelarbeiten zu den Verbrechen der Wehrmacht erarbeitet haben? Gegenwärtig herrscht der Eindruck vor, dass die Wehrmachtsoldaten Teil einer gigantischen Vernichtungsmaschinerie waren und somit Akteure, wenn nicht Exekuteure eines beispiellosen Massenverbrechens. Zweifellos ist zutreffend, dass die Wehrmacht an allen Verbrechen – von der Erschießung von Zivilisten bis zur systematischen Ermordung jüdischer Männer, Frauen und Kinder – beteiligt war. Das sagt aber nichts darüber aus, ob und wie die einzelnen Soldaten in Verbrechen involviert waren, und vor allem nichts darüber, welches Verhältnis sie selbst dazu hatten – ob sie solche Verbrechen willig oder mit Abscheu oder auch gar nicht verübten. Darüber gibt unser Material detailliert Auskunft, und zwar auf eine Weise, dass die festgefügten Bilder über »die Wehrmacht« in Bewegung geraten.
Dabei muss man sehen, dass Menschen alles, was ihnen begegnet, niemals unvoreingenommen, sondern immer durch spezifische Filter hindurch wahrnehmen. Jede Kultur, jede historische Epoche, jede Wirtschaftsform, kurz: jedes Sein prägt Wahrnehmungs- und Deutungsmuster, die die Wahrnehmung und Interpretation der Erlebnisse und Ereignisse anleiten. Die Abhörprotokolle bilden in Echtzeit ab, wie die Soldaten den Krieg sehen und sich darüber verständigen. Wir werden zeigen, dass ihre Betrachtungen und Unterhaltungen anders sind, als man sich das gemeinhin vorstellt – unter anderem, weil sie im Unterschied zu uns Heutigen
nicht
wissen, wie der Krieg ausgehen und was aus dem
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