Betula Pendula: Erster Zyklus: Frühling (German Edition)
Standortbedingungen
J eder hat einen kleinen, hässlichen dunklen Punkt in seinem Gehirn. Eine schimmlige kleine Stelle, eine Venus, die sich vor die Sonne schiebt, einen blinden Fleck auf der Retina seiner Gehirnmasse. Fernab von jedem sichtbaren Ort liegt ein kleiner, hässlicher dunkler Punkt in den Irrungen und Windungen des Gehirns.
Manche wissen vom kleinen, hässlichen dunklen Punkt – sie umkreisen ihn ständig, starren ihn an, kratzen und wühlen in ihm herum, bis er anfängt zu wuchern und sich auszudehnen und viel Platz einzunehmen.
Andere wissen nicht vom kleinen, hässlichen dunklen Punkt, sie leben ihr Leben weiter wie gehabt, und der kleine, hässliche dunkle Punkt zeigt niemals irgendeine Auswirkung.
Andere wissen von ihm, aber ignorieren ihn.
Manche spüren während eines starken Kopfschmerzes einen leichten Druck an der Stelle, der jedoch nie allzu unangenehm ist und selten auffällt.
Und sehr selten erkennt jemand den kleinen, hässlichen dunklen Punkt und hinterfragt Wirkung und Ursache dieser schwarzen, murmelähnlichen Verhärtung.
Es lässt sich gut leben mit dem kleinen, hässlichen dunklen Punkt. Einfach einen Umweg machen, einen großen Bogen darum schlagen, ihn ignorieren, sich von ihm fernhalten, und dann geht es einem gut.
Wer nicht wissen will, wo der kleine, hässliche dunkle Punkt liegt, der soll hier nicht weiterlesen.
Wenn man eine horizontale Linie durch das linke Auge zieht und die Linie um 30° nach Nordnordost dreht, dann liegt dort der Punkt am äußersten Ende des Kopfes, direkt unter der Schädeldecke.
Und jeder hat Wesen, die ihn nachts besuchen. Kleine Zwerge, die mit ihrer Zunge die Nasenspitze berühren und sich den Ellenbogen lecken können, während sie Konfetti durch die Luft werfen. Pferde aus der Mongolei, die durch das Zimmer galoppieren und Bob-Marley-Lieder singen. Manchmal sitzt ein Golem in deinem Sessel und ist schweigsam, und du gibst ihm etwas zu trinken. Schmetterlinge kommen zu Besuch, halten ein Tribunal ab und fechten ihren ewigen Kampf gegen die Motten aus, du bist genervt und versuchst zu schlichten. Manchmal flattert eine Postkarte von der Osterinsel durchs offene Fenster hinein, du freust dich, willst anfangen zu packen und holst deinen Koffer aus dem Schrank.
Ich werde dir jetzt eine Geschichte von einem Jungen namens Viktor erzählen.
Viktor P. Abies war sieben Jahre alt, als er eines Abends zum ersten Mal den kleinen, hässlichen dunklen Punkt entdeckte.
Viktor saß auf seinem Bett, blätterte in seinem „Star Wars“-Stickeralbum und wollte gerade seinen an diesem Tag getauschten Chewbacca-Aufkleber im Feld 23 aufkleben, da spürte er ihn. Es war nur ein kleiner Druck, ein unauffälliges Ziehen, ein sanfter Krampf, der 43° NNO, um 18° nach NO gedreht und um 6 Einheiten entlang der Z-Achse gespiegelt, in seiner linken Gehirnhälfte auftauchte. Viktor blinzelte ein paar Mal mit den Augen, verzog seinen linken Mundwinkel einmal, verzog seinen linken Mundwinkel und die linke Wange noch einmal etwas stärker nach oben, kniff das linke Auge zu, zog die linke Schulter kurz bis unter das linke Ohr hoch und schüttelte sich. Der Druck und das Ziehen waren wieder weg, und er klebte Chewbacca ordentlich, sorgfältig und penibel innerhalb des Rahmens von Feld 23 ein. Er strich noch einmal über den Aufkleber, um zu vermeiden, dass sich Luftblasen unterhalb der Fläche bildeten, und blickte stolz darauf.
„Mama, nähst du mir ein Chewbacca-Kostüm für meinen Geburtstag?“, schrie er dann.
Als er keine Antwort bekam, schrie er noch einmal etwas lauter.
Als noch immer keine Antwort kam, hielt er sich beide Hände um den Mund und brüllte, so laut er konnte: „Mama! Nähst. Du. Mir. Ein. Chewbacca. Kostüm. Für. Meinen. Geburtstag?!!“
Er hörte Schritte im Flur, dann flog seine Tür auf. Die Tür pral lte gegen seine Spielzeugkiste und blieb dann zitternd und ängstlich-angespannt stehen.
Seine Mutter stand im Türrahmen, ihre roten Haare waren zerzaust und hoben sich stark vom dunkelblauen Stoff des Bademantels ab. Viktor sah seine Mutter fast nie mit offenen Haaren, und wenn er es, wie jetzt, doch tat, verwirrte ihn das ein wenig. Er brauchte immer ein paar Sekunden, um sich zu vergewissern, dass diese Person auch tatsächlich seine Mutter war. Helena Abies öffnete die Haare nur zum Schlafen. Den ganzen Tag über – vom Aufstehen bis zum Schlafengehen – hatte sie ihre Haare zu einem festen Dutt im Nacken
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