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Soldaten

Soldaten

Titel: Soldaten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sönke Neitzel
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bezeichnet! [14]
    Paul Steinberg konnte seine Chance, unterzutauchen, aus kulturellem Nicht-Wissen heraus nicht nutzen – für die meisten anderen jüdischen Männer war es zur NS -Zeit ein tödliches Zeichen, beschnitten zu sein, und alle waren peinlich darauf bedacht, dieses Erkennungszeichen zu verbergen. Besonders in den besetzten Gebieten wurden Juden mit einem Blick auf das beschnittene Glied identifiziert – und so betrachtet hatte Steinberg seinen entscheidenden Vorteil nicht ausgespielt.
    Dies ist ein Beispiel für die Fatalität individuellen Nichtwissens, das gleichwohl zum in diesem Fall maßgeblichen Referenzrahmen und die an ihn gebundenen Interpretationen und Handlungen gehört. Insofern hängt, was man tut, davon ab, was man wissen und nicht wissen kann. Aber nicht nur deshalb ist die Erforschung dessen, was Menschen zu einem früheren Zeitpunkt gewusst haben, ein schwieriges Unterfangen. Denn Geschichte wird nicht wahrgenommen, sie
geschieht
. Und erst später wird von Historikern festgestellt, was aus einem Inventar von Geschehnissen »historisch«, also in irgendeiner Weise für den Lauf der Dinge bedeutsam gewesen ist. Im Alltag werden schleichende Veränderungen der sozialen und physikalischen Umwelt meist nicht registriert, weil sich die Wahrnehmung an die Veränderung ihrer Umwelten permanent nachjustiert. Umweltpsychologen nennen dieses Phänomen »shifting baselines«. Beispiele von der Veränderung von Kommunikationsgewohnheiten bis zur radikalen Verschiebung normativer Standards etwa im Nationalsozialismus zeigen, wie wirkungsvoll solche shifting baselines sind. Man hat den Eindruck, alles bliebe im Großen und Ganzen gleich, obwohl sich Fundamentales verändert hat.
    Erst nachträglich wird ein für die Wahrnehmung
langsamer
Prozess durch Begriffe wie etwa »Zivilisations
bruch
« auf ein abruptes Ereignis verdichtet – dann nämlich, wenn man weiß, dass eine Entwicklung radikale Konsequenzen gehabt hat. Die Interpretation dessen, was Menschen vom Entstehen eines Prozesses wahrgenommen haben, der sich erst sukzessive zur Katastrophe auftürmte, ist also ein äußerst vertracktes Unterfangen – vertrackt auch deswegen, weil wir unsere Frage nach der zeitgenössischen Wahrnehmung im Wissen darum stellen, wie die Sache ausgegangen ist, das aber die Zeitgenossinnen und Zeitgenossen logischerweise gar nicht haben konnten. Man blickt also vom Ende einer Geschichte auf ihren Beginn und müsste gewissermaßen das eigene historische Wissen suspendieren, um für einen jeweiligen Zeitpunkt angeben zu können, was man damals gewusst hat. Norbert Elias hat es deshalb als eine der schwierigsten Aufgaben der Sozialwissenschaften bezeichnet, die Struktur des Nichtwissens zu rekonstruieren, die zu anderen Zeiten vorgelegen hat. [15] Man kann das mit Jürgen Kocka auch als die Aufgabe der »Verflüssigung« von Geschichte bezeichnen, also »das Rückverwandeln von Faktizität in Möglichkeiten«. [16]

Erwartungen
    Am 2. August 1914, dem Tag nach der deutschen Kriegserklärung gegen Russland, notiert Franz Kafka in Prag in seinem Tagebuch: »Deutschland hat Russland den Krieg erklärt. – Nachmittag Schwimmschule.« Das ist lediglich ein besonders prominentes Beispiel dafür, dass Ereignisse, die die Nachwelt als
historische
zu bewerten gelernt hat, in der Echtzeit ihres Entstehens und Auftretens nur selten als solche empfunden werden. Wenn sie überhaupt zur Kenntnis genommen werden, dann als Teil eines Alltags, in dem noch unendlich viel mehr anderes wahrgenommen wird und Aufmerksamkeit beansprucht. So geschieht es, dass selbst außergewöhnlich intelligente Zeitgenossen einen Kriegsausbruch mitunter nicht bemerkenswerter finden als den Umstand, dass man am selben Tag seinen Schwimmkurs absolviert hat.
    In dem Augenblick, in dem Geschichte stattfindet, erleben Menschen Gegenwart. Historische Ereignisse zeigen ihre Bedeutung erst im Nachhinein, nämlich dann, wenn sie nachhaltige Folgen gezeitigt haben oder sie sich, mit einem Begriff von Arnold Gehlen, als »Konsequenzerstmaligkeiten« erwiesen haben: also als präzedenzlose Ereignisse mit Tiefenwirkung für alles, was danach kam. Damit ergibt sich ein methodisches Problem, wenn man die Frage stellt, was Menschen eigentlich von solch einem heraufdämmernden Ereignis wahrgenommen bzw. gewusst haben bzw. wahrnehmen und wissen
konnten
. Denn Erstmaligkeitsereignisse werden in der Regel gerade deshalb nicht wahrgenommen, weil sie neu sind, man

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