Soldaten
also das, was geschieht, mit den verfügbaren Referenzrahmen zu erfassen versucht, obwohl es sich um ein präzedenzloses Geschehen handelt, das selber erst eine Referenz für spätere vergleichbare Ereignisse liefern kann.
So kann man aus historischer Perspektive feststellen, dass die Weichen für den Vernichtungskrieg längst gestellt waren, als die Wehrmacht am 22. Juni 1941 die Sowjetunion angriff. Gleichwohl darf bezweifelt werden, dass die Soldaten, die am frühen Morgen dieses Tages ihre Anordnungen erhielten, wirklich begriffen, welch ein Krieg ihnen bevorstand. Sie erwarteten einen raschen Vormarsch, so wie in Polen, Frankreich und auf dem Balkan, keinen Vernichtungskrieg, der auch in der Hauptkampflinie mit bislang beispielloser Härte geführt werden sollte. Und schon gar nicht erwarteten sie, dass im Rahmen dieses Krieges systematisch Personengruppen vernichtet werden würden, die mit dem Kriegsgeschehen im engeren Sinn gar nichts zu tun hatten. Der Referenzrahmen »Krieg« sah das nämlich bis dato überhaupt nicht vor.
Aus demselben Grund haben viele der jüdischen Deutschen nicht die Dimension des Ausgrenzungsprozesses erkannt, deren Opfer sie wurden. Die nationalsozialistische Herrschaft wurde als kurzlebiges Phänomen betrachtet, »das man durchstehen müsse, oder als einen Rückschlag, auf den man sich einstellen konnte, schlimmstenfalls als Bedrohung, die einen zwar persönlich einengte, aber immer noch erträglicher war als die Fährnisse eines Exils«. [17] Die bittere Ironie liegt im Fall der Juden gerade darin, dass ihr Referenzrahmen Antisemitismus, Verfolgung und Beraubung aufgrund leidvoller historischer Erfahrungen ohne weiteres umfasste, er es ihnen aber gerade dadurch unmöglich machte zu sehen, dass nun etwas geschah, was anders, nämlich absolut tödlich, war.
Formale Verpflichtungen
Zum orientierenden Referenzrahmen gehört auch etwas sehr Einfaches: das Universum des Vorgeschriebenen und die Position in einer Hierarchie, die festlegt, was man vorgeschrieben bekommt und auszuführen hat und was man selbst anderen vorschreiben kann. Auch hier gibt es im Zivilleben ein Kontinuum von totaler Abhängigkeit bis zu totaler Freiheit, wobei dies wiederum je nach der Rolle, in der man auftritt, variieren kann. Wenn jemand als Unternehmer große Handlungsfreiheit hat und ihm jenseits des Gesetzes kaum etwas vorzuschreiben ist, kann das zum Beispiel innerhalb seiner Familie ganz anders aussehen, wo ihm, je nachdem, ein dominanter Vater oder eine herrische Ehefrau durchaus Vorschriften machen können, denen er sich nur schwer entziehen kann.
Im Militär sind die Dinge wiederum ganz klar: Hier ist durch den Rang und die Funktion eindeutig festgelegt, wie groß oder klein die Handlungsspielräume des Einzelnen sind, und je tiefer man in der Hierarchie steht, desto abhängiger ist man von den Befehlen und Entscheidungen anderer. Selbst in totalen Institutionen wie dem militärischen Ausbildungslager, dem Gefängnis oder der psychiatrischen Anstalt ist der Handlungsspielrum des Einzelnen aber nicht grundsätzlich gleich null. Erving Goffman hat in »Asyle« eindrücklich beschrieben, wie Regeln in totalen Institutionen ausgebeutet und für eigene Zwecke genutzt werden können. Wenn etwa Tätigkeiten in der Küche zum »Organisieren« oder in der Bücherei zum Schmuggeln benutzt werden, handelt es sich um eine »sekundäre Anpassung« an die Institution. Man gibt vor, den Regeln zu folgen, beutet sie aber zu eigenen Zwecken aus. Besatzer haben vielfältige Möglichkeiten zur sekundären Anpassung. So erzählt Leutnant Pölert im Juni 1944: »Ich habe von Frankreich ungeheure Mengen von Butter und drei bis vier Schweine nach Hause geschickt. Es waren vielleicht drei bis vier Zentner Butter.« [37] Das ist die schöne, ausbeuterische Seite des Krieges. Aber die Freiheitsgrade zur sekundären Anpassung sinken radikal, wenn gekämpft wird – solche Situationen lassen sich allenfalls noch dadurch ausbeuten, dass man Gefallen an der Gewalt findet. In jedem Fall findet mit der Verengung und Verschärfung der Situation eine Entdifferenzierung des Referenzrahmens statt.
Persönliche Dispositionen
Natürlich kann nicht alles von dem, was Menschen wahrnehmen und tun, auf unterschiedlich abgestufte äußere Referenzen zurückgeführt werden. Selbstverständlich bringen einzelne Personen unterschiedliche Wahrnehmungsweisen, sozialisierte Deutungsmuster, altersspezifische Erfahrungen und besondere
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