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Soldaten

Soldaten

Titel: Soldaten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sönke Neitzel
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»Pfadabhängigkeit« nennen: tatsächlich kommen alle diese Elemente hier in einer fatalen Folgerichtigkeit zusammen und führen zum Tod von insgesamt elf Menschen innerhalb weniger Minuten. Aber damit ist der Prozess noch keineswegs beendet. Die Soldaten bilanzieren:
    04:31 Oh ja, schau Dir diese toten Bastarde an.
    04:36 Hübsch.
    [...]
    04:44 Hübsch.
    04:47 Guter Schuss.
    04:48 Danke.
    Was von außen wie Zynismus erscheint (und in den Medien auch so kommentiert wurde), ist nichts als die professionelle Bestätigung, gute Arbeit geleistet zu haben. Und diese wechselseitige Bestätigung manifestiert einmal mehr, dass es sich in der Optik der Soldaten bei den Getöteten tatsächlich um Ziele gehandelt hat, die
legitimerweise
beschossen wurden. Die Getöteten der anderen Seite werden fast immer als Kämpfer, Partisanen, Terroristen oder Aufständische betrachtet: Man findet diese sich selbst bestätigende Definition in der in Vietnam unter amerikanischen Soldaten gängigen Regel: »Wenn er tot ist und Vietnamese, ist er ein Vietcong« [962] (vgl. S. 132), genauso wie in den Begründungen für die Ermordung von Frauen und Kindern als »Partisanen« durch Wehrmachtsoldaten. Immer ist es die aus der Definition folgende Gewalthandlung, die die Richtigkeit der Definition nachträglich bestätigt. Gewalt fungiert somit als Medium der Beweisführung, dass man eine Situation zutreffend beurteilt hat. Im Fall des WikiLeaks-Videos ist deutlich zu sehen, wie die Gewalt eine Situation, in der Orientierungsdefizite herrschen – die Männer also nicht genau wissen, was zu tun ist –, in eine eindeutige Situation transformiert: Wenn alle tot sind, ist Ordnung hergestellt. Ist der Prozess einmal angelaufen, wird jedes Detail nur noch im Licht der einmal vorgenommenen Definition gesehen. Der Lieferwagen mit den Männern, die den Schwerverletzten aus der Gefahrenzone bringen wollen,
ist
ein feindliches Fahrzeug, die Helfer
sind
folgerichtig
weitere
Terroristen.
    Quelle: WikiLeaks.
    Selbst der Umstand, dass sich Kinder im Auto befanden und diese von den amerikanischen Soldaten von Kugeln durchlöchert wurden, kann als nochmalige Bestätigung der einmal gemachten Definition genommen werden:
    17:04 Wir müssen, wir müssen, äh, dieses Kind evakuieren. Ah, sie hat eine, äh, sie wurde am Bauch verwundet.
    17:10 Ich kann hier gar nichts machen. Sie muss evakuiert werden. Over.
    [...]
    17:46 Gut, es ist ihre Schuld, dass sie ihre Kinder mit in den Kampf bringen.
    17:48 Das stimmt.
    Man sieht, wie stark die Definition ist: Dass die Kinder verletzt wurden, ist nicht einmal ein Kollateralschaden, auf keinen Fall die Schuld der Helikopterbesatzungen, schon gar kein Hinweis darauf, etwas falsch gemacht zu haben, sondern nur ein Beweis mehr, wie perfide die »Aufständischen« sind: Sie nehmen sogar Kinder mit in den Kampf.

Gewalt
    Gewalt wird, wenn die kulturellen und sozialen Situationen es als sinnvoll erscheinen lassen, von buchstäblich allen Personengruppen angewandt: von Männern und Frauen, Gebildeten und Ungebildeten, Katholiken und Protestanten und Muslimen. Gewalt auszuüben ist eine
konstruktive
soziale Handlung – der Täter oder die Täterin erreichen damit Ziele und schaffen Sachverhalte: zwingen anderen ihren Willen auf, sortieren Zugehörige von Ausgeschlossenen, bilden Macht, eignen sich die Güter der Unterlegenen an. Destruktiv ist Gewalt zweifellos für die Opfer, aber nur für sie.
    Das alles bedeutet nicht, um einem naheliegenden Missverständnis vorzubeugen, dass es eine unabänderliche Anthropologie der Gewalt gäbe, die, wie es oft und ungeprüft heißt, unter dem dünnen Firnis der Zivilisation auf Entfesselung wartet; es zeigt lediglich, dass menschliche Überlebensgemeinschaften bislang immer die Option Gewalt gewählt haben, wenn sie darin einen Sinn gesehen haben. Tatsächlich ist der Firnis der Zivilisation nämlich nicht dünn: Seit moderne Nationalstaaten das Prinzip der Gewaltmonopolisierung eingeführt haben, ist der innerstaatliche Gewaltgebrauch dramatisch gesunken und jede private Gewalthandlung sanktionierbar. Dieser zivilisatorische Fortschritt hat jenes ausgeprägte Maß an Freiheit ermöglicht, das die Bewohner demokratischer Gesellschaften genießen, aber er bedeutet nicht zugleich, dass die Gewalt abgeschafft wäre: Sie hat lediglich ein anderes Format angenommen, und das heißt erstens nicht, dass das Gewaltmonopol nicht gelegentlich privat oder kollektiv gebrochen würde, und es heißt auch

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