Soldaten
Offiziere durch die Mannschaften und umgekehrt. Der verinnerlichte Wertekanon liefert die Matrix für die subtile und unaufhörliche Bewertung des eigenen Verhaltens wie für das der Kameraden und der Gegner.
Kriegsspezifische
Deutungsmuster
– dass der Krieg »scheiße« ist, immer Opfer fordert, andere Regeln hat als das Zivilleben etc. – finden sich allenthalben. Der Krieg bildet die Lebenswelt der Soldaten. Aus der Perspektive dieser Lebenswelt betrachten sie Kriegsgefangene, Zivilbevölkerungen, Partisanen, Zwangsarbeiterinnen, kurz: alles, was ihnen in den Weg kommt. Deutungsmuster und Legitimationen werden, wie besonders am Beispiel der Partisanentötungen deutlich wird, oftmals eins. Die Kriegsgewalt öffnet einen Deutungs- und Handlungsraum, den es im Zivilleben nicht gibt: Töten, vergewaltigen, mächtig oder auch gnädig sein zu können – alle diese neuen Möglichkeiten gehen auf den geöffneten Gewaltraum und die an ihn gebundenen Deutungsmuster zurück.
Formale Verpflichtungen
bestimmen das Leben und Handeln von Soldaten entscheidend, wie nicht zuletzt an den Erklärungsnöten der Deserteure selbst der letzten Kriegstage sichtbar wird.
Soziale Verpflichtungen
ebenfalls: Für die Frontsoldaten ist die Kameradschaftsgruppe und sind die Vorgesetzten die sozialen Einheiten, denen sie sich fast ausschließlich verpflichtet fühlen – was ihre Freundinnen, Frauen oder Eltern von all dem halten mögen, was sie erleben und tun, spielt demgegenüber kaum eine Rolle. Die soziale Nahwelt ist es, die die Soldaten zwingend auf ein bestimmtes Handeln verpflichtet – abstrakte Angelegenheiten wie die »jüdische Weltverschwörung«, das »bolschewistische Untermenschentum« oder auch die »nationalsozialistische Volksgemeinschaft« spielen für sie nur ganz am Rande eine Rolle. Diese Soldaten sind keine »Weltanschauungskrieger«, sondern meist völlig unpolitisch.
Persönliche Dispositionen
spielen gewiss eine Rolle dafür, wie Geschehnisse gesehen, bewertet und verarbeitet werden, aber wie sich diese im Einzelnen auswirken, kann man erst an Einzelfallstudien sehen, für die in diesem Buch kein Raum war. Erste Schritte in diese Richtung legen den Schluss nahe, dass die Wahrnehmungen der Soldaten durchaus heterogen waren. Und dies gilt selbst für die Generäle, denen man aufgrund ihrer langen Dienstzeit im Militär eigentlich eine große Homogenität unterstellen würde. [959] Allerdings wirkten sich unterschiedliche, ja geradezu konträre Deutungen des Krieges kaum auf das faktische Handeln der Soldaten aus. Im Krieg verhielten sich Protestanten ebenso wie Katholiken, Nazis ebenso wie Anti-Nazis, Preußen wie Österreicher, [960] Akademiker wie Nicht-Akademiker.
Angesichts dieses Befundes wird man intentionalistische Ansätze zur Erklärung etwa der nationalsozialistischen Verbrechen mit noch größerer Skepsis sehen, als es ohnehin schon angebracht ist. Kollektivbiographische Ansätze [961] führen dichter an das Motivationsgefüge heran, tendieren aber dazu, die formative Rolle des Ideologischen gegenüber jener der Praxis zu hoch zu bewerten. Es ist die gruppenspezifische Gewaltpraxis viel mehr als die kognitive Begründung und Einordnung, die die Handlungen der Soldaten begründet und erklärbar macht.
Aus unserer Sicht ist die Verschiebung des Referenzrahmens vom zivilen Zustand in jenen des Krieges der entscheidende Faktor, wichtiger als alle Weltanschauung, Disposition und Ideologisierung. Diese sind nur wichtig dafür, was die Soldaten für erwartbar, gerecht, irritierend oder empörend halten, aber nicht für das, was sie tun. Das mag sich angesichts dessen, was diese Soldaten angerichtet haben, allzu lapidar anhören, aber Krieg formiert einen Geschehens- und Handlungszusammenhang, in dem Menschen tun, was sie unter anderen Bedingungen niemals tun würden. In diesem Zusammenhang töten Soldaten Juden, ohne Antisemiten zu sein, und verteidigen ihr Land »fanatisch«, ohne nationalsozialistisch zu sein. Es wird Zeit, mit der Überbewertung des Ideologischen aufzuhören; Ideologisches mag Anlässe für einen Krieg liefern, erklärt aber nicht, warum Soldaten töten oder Kriegsverbrechen begehen.
Der Krieg und das Handeln der Arbeiter und Handwerker des Krieges sind banal, so banal, wie es das Verhalten von Menschen unter heteronomen Bedingungen – also im Betrieb, in einer Behörde, in der Schule oder in der Universität – immer ist. Gleichwohl entbindet diese
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