Solheim 01 | EUROPA: Der Beginn einer Dystopie (German Edition)
Sangre-Energie war ebenso wenig geklärt, wie der Verbleib der Children of Chou.
„Etwas verstehe ich nicht ganz“, sagte die Frau, die sich nun die blutigen Handschuhe abstreifte. „Was hat Isaak dazu bewegt, den Korridoren zu folgen und nicht mit euch nach Island zu fliegen?“
„Darüber hat jeder seine eigene Meinung“, sagte Rasmus und warf einen Blick auf die dahingleitenden Quallen, in denen sich das Licht des Nachmittags brach. „Wir haben das immer wieder besprochen in den Jahren danach. Ich glaube, es war wegen Ninive. Nicht wegen Nina. Es ging um Ninive. Er hat gesehen, dass sie ihn brauchte um ihre eigene Welt wieder auf sichere Füße zu stellen.“
„So einfach ist das nicht“, widersprach Lilian. „Er ist gegangen, weil er Ninives Anziehungskraft nicht widerstehen konnte und Angst hatte, das könne seine obsessive Suche nach Nina wieder ans Tageslicht zerren. Das wäre für die Mission zu gefährlich gewesen.“
„Aber spielt seine Motivation am Ende eine wirkliche Rolle?“, fragte Rasmus.
„Nein“, die Frau, die nun die benutzten Nadeln in einem kleinen Plastikbehälter verstaute und diesen geräuschvoll in den Mülleimer fallen ließ, sah zu Rasmus auf. „Aber die Vorstellung, er hätte diese Entscheidung wegen Ninive getroffen, gibt mir ein Happy End. Fürs erste. Ich mache uns jetzt einen Tee und dann gehen wir auf die Dachterrasse und ihr erzählt mir den Rest.“
73 | AM ENDE
Mithilfe von Sequanas Fähigkeiten elektronische Schlösser zu manipulieren fanden sie Zugang zum Ostflügel. Sie hatten Wartungsschächte und die außen an den Mauern angebrachten Rettungsgänge genommen und waren so weiteren Begegnungen mit den Visaren bislang aus dem Weg gegangen. Sequana hatte sich anfangs in Sashas Gegenwart sicher gefühlt. Sie war mit einer Übermacht an Visaren in der Cafeteria offensichtlich spielend fertig geworden. Welchen Grund sollten sie haben, sich um ein paar weitere dieser Wesen Gedanken zu machen? Doch je weiter sie sich in den Ostteil bewegten, desto öfter fiel Sequana auf, wie viel Kraft Sasha die Abwehr der Visaren gekostet haben musste. Sie bezweifelte, dass sie eine ähnliche Situation an diesem Tag noch einmal bestehen würde.
So gefährlich es auch war, Sequana war nicht unglücklich darüber, weiter in die Station vorzudringen. Das plötzliche und völlig unverhoffte Auftauchen Sashas wäre ein unbefriedigendes Ende ihrer Reise gewesen. Sie war durch die Blitze der sterbenden Visaren zu Boden geschleudert worden und hatte das Bewusstsein verloren. Nachdem sie vor Bomben, Sec-Teams und van Ijssel mit Müh und Not aber aus eigener Kraft geflohen war, hatte Sasha sie gerettet anstatt andersrum. Doch Sequana wollte ihre Suche nicht bewusstlos und als Statist beenden, und deshalb hatte sie den anderen auch nichts von den starken, stechenden Schmerzen hinter ihren Rippen gesagt, dass ihr von Zeit zu Zeit den Atem nahm.
„Es ist nicht mehr weit“, hörte sie Sasha zu Isaak sagen, die ein Stück vor ihr durch einen schmalen Wartungsschacht nach unten in den Keller der Station kletterten. Sie klammerte sich an den metallenen, in die Wand eingelassenen Sprossen fest und atmete vorsichtig ein und aus.
„Ist alles in Ordnung mit dir?“, fragte Ninive über ihr besorgt.
„Alles in Ordnung. Meine Brust schmerzt ein wenig, seitdem ich vorhin unsanft auf dem Boden gelandet bin“, Sequana wusste, dass sie nun nicht mehr alleine zurückgeschickt wurde. „Aber wir sind gleich da, sagt Sasha.“
Der Wartungsschacht endete in einer kleinen Kammer, in dem Reinigungsutensilien und eine kleine Werkbank standen. Der Raum wirkte so, als wäre er erst gestern noch in Benutzung gewesen. Ein eigenartiger Ort, dachte Sequana, so normal und gewöhnlich, dafür dass er direkt neben einem großen Loch in der Realität – anders konnte sie die Korridore nicht bezeichnen – lag, in einer Forschungsstation, die vielleicht die ungewöhnlichste Geschichte aller wissenschaftlichen Einrichtungen hatte.
„Hier liegt einer!“, Isaak winkte die anderen heran.
„Warum ist der nackt?“, fragte Sasha verwirrt.
Während Ninive stehen blieb und den Kopf schüttelte, vergaß Sequana ihren Schmerz und kam näher. Halb unter einem der Regale lag ein bleicher, männlicher Visar. Sein schmaler, jetzt gar nicht mehr menschlich aussehender Körper war nackt und blutig. Die Haut war fast am ganzen Körper zerkratzt, als hätte er mit einem ausgewachsenen Tiger gekämpft, und auch einige
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