Solheim 01 | EUROPA: Der Beginn einer Dystopie (German Edition)
Stücke Fleisch waren aus seinem Oberkörper und Beinen gerissen. Doch am bemerkenswertesten war sein Gesicht – wenn man es noch so nennen wollte. Eine breite Glasröhre war geborsten und geschwärzt in der Mitte seines ehemals silbernen Augenfelds. Ein dünner, gedrehter Metallfaden war dahinter zu sehen, wie bei einer alten, länglichen Glühbirne. Doch auch der Rest des Kopfes war deformiert und sah aus, als wäre er von innen heraus verbrannt.
„Wie lebendige Blitzwürfel“, murmelte Isaak.
„Was für Dinger?“, fragte Sequana. Die manchmal eigenartigen Wörter, die Isaak offensichtlich aus seinem Leben vor dem Kälteschlaf mitgebracht hatte, amüsierten sie.
„Blitzwürfel. Die hat man auf alte Fotokameras geschraubt, wenn die Umgebung zu dunkel war. Und die sind auch nach einem Blitz durchgebrannt.“
„Hört sich nicht sehr praktisch an.“
„Die hat man auch lange vor meiner Geburt schon nicht mehr benutzt.“
„Wie alt bist du?“, fragte jetzt Sasha verwirrt.
„Lange Geschichte“, entgegnete Isaak, „später.“
Sasha nickte und deutete auf die Tür der Kammer. Sie setzten sich wieder in Bewegung. Sequana sah zu Ninive, die es vermied, den toten Visar anzusehen. Ninive hatte ihr in groben Zügen von der Flucht aus den Korridoren nach ihrem Treffen erzählt, doch Sequana war aufgefallen, dass sie viele Details ausgelassen hatte.
Sie gingen von der Tür der Kammer aus einen Gang entlang bis zu einer großen Schiebetür aus einem robusten Metall, die von einem ID-Schloss gesichert war. Sie hatten außerhalb der Kammer nicht mehr gesprochen, zu groß war nun die Gefahr, dass ihnen Visaren begegneten. Sequana übernahm das Schloss, brauchte jedoch mehr Energie, als sie gedacht hatte, um die Tür schließlich zu entriegeln. Sie fühlte, wie ihre Glieder müde wurden und ihre Körperspannung nachließ, als sie sich von dem kleinen, aufgebrochenen Interface des Schlosses abwandte. Der pochende Schmerz hinter ihrer Brust und ihren Rippen nahm zu und ihre Lunge begann zu brennen beim Atmen.
„Direkt hinter dieser Tür ist die Kammer mit der Maschine, die die Korridore offen hält“, flüsterte Sasha. „Wir sind bis hierhin gekommen, ohne den Visaren über den Weg zu laufen. Das wird jetzt nicht mehr so bleiben.“
„Wie gehen wir vor?“, fragte Isaak.
„Wir landen jetzt gleich auf einer Galerie, die komplett um den Raum läuft. Die Maschine steht unten und umgibt einen großen Schacht – die Öffnung der Korridore. Aber es gibt eine Fernsteuereinheit in einem kleinen Kontrollraum oben auf der Galerie, etwa ein Drittel nach links um den Raum herum. Die ist ID-gesichert, aber wenn wir ...“
„Verschafft mir etwas Zeit“, brachte Sequana hervor und versuchte, den Atem flach zu halten und den Schmerz zu ignorieren. „Ich kümmere mich um das Schloss.“
„Gut“, sagte Isaak, „dann gehen wir runter und sorgen für etwas Stimmung!“
„Sequana, wenn du das Schloss geknackt hast, dann kannst du die Abdeckung der Maschine öffnen. Dahinter ist eine Steuerkonsole, die die Abschaltroutine einleitet. Hoffe ich jedenfalls“, Sasha rieb sich die Hände. „Ich werde uns einen Lichtschild machen. Ninive, Isaak, ihr bleibt unter meinem Schild und erledigt die Visaren. Solange meine Energie reicht, sind die Blitze der Visaren nur ein lächerlicher Lichteffekt. Um gleichzeitig anzugreifen reicht meine Kraft nicht mehr.“
„Ich werde mich beeilen“, sagte Sequana so ruhig wie möglich. „Und jetzt los!“
Sie schlug mit der Faust auf das freigeschaltete Display der Türverriegelung und diese glitt fast lautlos zur Seite. Der Raum dahinter war riesig. Rund, etwa fünfzig Meter im Durchmesser und der Boden lag gut zehn Meter unterhalb der Galerie. Während die anderen drei nach rechts zur nächstgelegenen Treppe abbogen, ging Sequana linksherum, immer an der Wand entlang, um aus der Tiefe des Raums nicht gesehen zu werden. Sie selbst riskierte jedoch einen Blick hinunter. Etwa in der Mitte des Raums sah sie einen großen, rotierenden Lichtkegel, der einen Schacht umgab. Die Visaren hatten hier offenbar ihr Lager errichtet, eine Art Brückenkopf in eine Welt, die nicht die ihre war. Mehrere große Gruppen befanden sich dort und schienen wie eine große, vornehme Partygesellschaft an einem recht ungewöhnlichen Ort. Alles in allem waren es wohl mehr als einhundert dieser Wesen, und damit deutlich mehr als in der Cafeteria.
Das können sie nicht überleben!, schoss es Sequana durch den
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