Soljanka (German Edition)
betäuben. Lena Wieland
hält still, bis das Auto schließlich anhält.
Sie wird herausgezerrt, von beiden Seiten
klammern sich Hände an ihren Oberarmen fest und leiten sie. Sie versucht, die
Schritte zu zählen, doch irgendwo zwischen dreißig und vierzig stolpert sie und
verliert vollends die Orientierung. Ein paar Minuten laufen sie noch in
gespenstischer Stille, dann halten sie an. Lena wird gegen kalten Stein
gepresst, ihre Arme werden hochgehoben und irgendwo festgebunden. Dann beginnen
grobe Hände, ihr die Kleider vom Leib zu reißen. Lena schreit wieder, aber
sofort presst sich ein Gesicht mit heißem Atem an ihr Ohr. Sie spürt etwas
Spitzes an ihrem Hals.
»Schweig, oder du bist tot«, flüstert ihr eine
Stimme zu. Lena Wieland will nicht sterben. Sie schweigt. Als sie ganz nackt
ist, lassen die Männer zunächst von ihr ab. Lena, zitternd vor Kälte und
Furcht, gibt sich einen Moment lang der Hoffnung hin, dass der Alptraum enden
könnte. In Wahrheit beginnt er gerade erst. Ein »Großmeister« ergreift das
Wort. Er ruft Satan an, eröffnet eine schwarze Messe, gibt die Opfer der
Zügellosigkeit der Satansjünger preis.
Der zweite Vergewaltiger stellt sich ungeschickt
an, er greift Lena ins Gesicht, will sie küssen. Dabei verrutscht die
Augenbinde. Fortan sieht Lena Wieland auch, was mit ihr passiert. Sie ist an
die Füße des Fackelträgers gefesselt, Männer in Nazi-Uniformen fallen über sie
her, die Gesichter hinter venezianischen Masken oder Ku-Klux-Klan-Kapuzen
versteckt. Sie sieht auch, dass sie nicht das einzige Opfer ist. Es gibt eine
zweite gefesselte Frau, andere sind ebenfalls nackt, können sich aber frei
bewegen. Sie machen das obskure Ritual anscheinend freiwillig mit.
Die satanistische Orgie endet erst, als die
Manneskraft der maskierten Teufelsjünger ermattet. Lena Wieland hat mit ihrem
Leben abgeschlossen. Sie rechnet fest damit, an Ort und Stelle getötet, Satan
zum Opfer gebracht zu werden. Doch ihre Peiniger gehen nicht bis zum Äußersten.
Sie wird losgebunden, kann sich anziehen, dann wird sie, wiederum mit
verbundenen Augen, zurück nach Köln gefahren. An der Inneren Kanalstraße wird
sie aus dem Auto geworfen, die nur bedingt blickdichte Binde immer noch über
den Augen, die Hände gefesselt.
Die Ermittlungen der Kölner Polizei zur
Aufklärung dieser düsteren Nacht verliefen weitgehend im Sande. Bis heute ist
nicht zweifelsfrei geklärt, ob sich diese monströse rituelle Vergewaltigung
tatsächlich so abgespielt hat. Einerseits sind die Aussagen von Lena Wieland
relativ klar, und sie werden auch durch objektive Indizien gestützt. Das Opfer
hat den Ort seiner Peinigung eindeutig erkannt, Dorfbewohner haben den
Autokonvoi gesehen – und vor allem: Lena konnte Teile eines Autokennzeichens
erkennen.
Andererseits leidet Lena Wieland an einer
multiplen Persönlichkeitsspaltung, deren Ursache unklar ist. Die Frage ist: Hat
sich die massive Belastungsstörung durch die Ereignisse vom letzten Sommer erst
herausgebildet, oder lag sie bereits vor und die geschilderten Ereignisse
entsprangen ihrer Phantasie?
Die Polizei scheint angesichts mangelnder
Ermittlungserfolge letzterer Variante zuzuneigen, Lena Wielands Therapeutin Dr. Annette
Krüger ist darüber empört. »Es gibt in Lena Wielands früherer Biografie kein Ereignis,
das auch nur annähernd als Auslöser einer derart massiven posttraumatischen
Belastungsstörung in Frage kommt«, sagt sie. Das Leben ihrer Patientin habe
sich seit dem letzten Sommer so entscheidend geändert, »dass da einfach
irgendetwas Gravierendes vorgefallen sein muss«. Für Krüger ist es nicht
nachvollziehbar, dass die Ermittlungen der Polizei trotz starker Indizien
vollkommen ergebnislos geblieben sind. Die Therapeutin äußert einen brisanten
Verdacht: »Ich kann mich des Gefühls nicht erwehren, hier wird mit angezogener
Handbremse ermittelt, weil möglicherweise jemand mit beträchtlichem Einfluss in
den Fokus geraten könnte.« Auch eine politische Implikation wegen der
ideologisch aufgeladenen Bedeutung der ehemaligen Naziburg Vogelsang will sie nicht
ausschließen.
Sie legte das Magazin aus der Hand. Der Rest des Artikels, in
dem die typischen Merkmale satanistischer Verschwörungstheorien dem politischen
Disput um die Gefahr einer Vereinnahmung der Naziburg Vogelsang durch braune
Gruppierungen gegenübergestellt wurden, interessierte sie nicht. Sie dachte
eine Weile nach, dann stand sie auf, ging zum Telefon und tippte eine Nummer
Weitere Kostenlose Bücher