Solom: Der Wanderprediger (German Edition)
zwischen den verwitterten Granitfelsen am Gipfel. Bis zur Kirche nahm er mächtig an Fahrt auf und wurde von weiteren vereinzelten Quellen gespeist, so dass er als schäumender Bach am Gotteshaus vorbeiströmte. Harmon Smith hatte einen Teil seines Grundstücks für den Bau der Kirche überlassen. Ursprünglich war die Kirche im Stil einer Blockhütte gebaut, doch nach der letzten Jahrhundertwende war sie abgerissen und neu errichtet worden.
Auf genau diesem Weg war der alte Harmon mit seinem Pferd entlanggeritten. Wie oft war er hier aus dem Sattel gestiegen und hatte ein Gebet gesprochen, bevor er wieder aufsaß und weiterritt. Für David war dieser Weg so etwas wie ein Pilgerpfad, als könnte er hier die Antwort auf die vielen Fragen finden, die den Wanderprediger umgaben. Glaube und Liebe schienen entlang dieses Pfades zu liegen.
Schade war nur, dass Gordon von Harmon nichts weiter als den Nachnamen geerbt hatte. Von der Leidenschaft und dem Feuer war nichts in ihm zu spüren. Die Primitiven Baptisten mussten keine Seelen retten. Dennoch musste der Pfarrer seine Herde beisammen halten. David war sich seiner Verantwortung wohl bewusst. Sein eigener Bruder Ray hatte ihn deshalb verleugnet und war zu den Free Will Baptisten gegangen. Vielleicht brauchte Ray den Trost, den man erfuhr, wenn man den Herrn in sein Herz ließ. Doch so wie Ray erzogen worden war, wusste er, dass bereits ein Platz im Himmel auf ihn wartete, egal, ob er vergaß oder nicht.
David ließ den Strahl der Taschenlampe über den Weg schweifen und wich den schlangenförmigen Wurzeln der Eichen und Rosskastanien aus. Er empfand es als beruhigend und verjüngend, diesen Weg entlangzulaufen, so als ob er sich vom Geist derjenigen nährte, die diesen Pfad bereits vor ihm gegangen waren. Den richtigen Weg zu finden, das war das Geheimnis. Den richtigen Weg zu gehen.
Manchmal plumpste eine Eichel oder eine Nuss durch die Blätter und fiel leise neben ihm auf den Boden. Der Wald roch nach Lehm, Salamandern und schlammigen Quellen. Plötzlich stand David vor einem Drahtzaun und wusste, dass er jetzt Gordon Smiths Weide erreicht hatte. Der gesamte Viehbesitz des Professors bestand ausschließlich aus Ziegen. Das sagte eigentlich alles über den derzeitigen Zustand von Harmon Smiths Vermächtnis.
»Kein Grund zur Bitterkeit«, sagte David zu sich selbst. »Gordon hat bestimmt auch schon seinen Platz im Himmel sicher, genau wie alle anderen.«
Das war eine der großen Fragen, die David am Gedanken der Vorbestimmung störte. Wenn der Herr schon vorher wusste, dass man der ewigen Belohnung würdig war, warum ließ er einen dann überhaupt erst durch die Mühlen der Welt gehen? Warum beamte er die Seele nicht einfach aus dem Mutterleib direkt in den Himmel? Doch dann wäre Gott kaum mehr als eine Parodie auf Scotty aus den alten Star-Trek-Filmen.
Also musste Gott doch Größeres im Sinn haben. Er stellte die Menschen vor verschiedene Prüfungen. David fragte sich, ob es überhaupt richtig war, über Gottes Pläne nachzudenken. Vielleicht war das eine Sünde, über die nichts in der Bibel stand?
David kletterte über den Zaun. Sein Fuß verfing sich in einer Drahtschlinge auf dem Boden, so dass er das Gleichgewicht verlor. Die Taschenlampe fiel herunter, das Licht begann zu flackern und erstarb schließlich ganz. David saß auf dem hüfthohen Zaun, der obere Draht schnitt sich in seinen Oberschenkel. Er richtete sich auf und versuchte, seinen Fuß aus der Schlinge zu ziehen. Er spürte, wie an seiner linken Hand etwas Nasses herunterlief. So wie es brannte, hatte er sich offenbar geschnitten.
Auf der Weide, zwanzig Meter rechts von ihm, raschelte etwas durch die Blätter.
Das Mondlicht spiegelte sich im Schalter der Taschenlampe. David versuchte vom Zaun aus die Lampe zu erreichen, doch ein paar Zentimeter fehlten. Er richtete sich wieder auf. Der Draht schwang zwischen den beiden Pfosten hin und her. Er zerrte an seinem verhedderten Schuh, doch eine der Schnürsenkelösen musste sich in einem Stück rostigen Stahldraht verfangen haben.
Das lauter werdende Rascheln der Blätter kündigte die Ankunft von etwas Großem an. Hier in den Bergen gab es eigentlich nichts, wovor man Angst haben musste, außer vielleicht tollwütige Tiere. All die großen Raubtiere wie die Pumas waren schon lange ausgerottet, ebenso wie die Bisons und Elche, von denen sie sich ernährt hatten. Es gab zwar Schwarzbären hier, doch die griffen nur an, wenn sie sich bedroht
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