Solomord
sie die richtige englische Übersetzung nannte.
»Sessel?«
»Hm, du, Papa?«
Er blickte auf. Sie lag da und starrte zur Zimmerdecke. Irgendetwas schien sie zu beschäftigen.
»Ja?«
»Werdet ihr das Mädchen finden?«
Sie löste ihren Blick von dem Punkt, den sie mit den Augen fixiert hatte, und schaute ihn ängstlich an. Er strich ihr behutsam über den Kopf.
»Natürlich«, antwortete er mit fester Stimme, obwohl er sich da gar nicht sicher war. Vielleicht würden sie Michelle Roeder in den nächsten Stunden oder Tagen finden, aber ob sie dann noch lebte? Er wusste es nicht.
»Schlaf jetzt schön«, flüsterte er und beugte sich über sie. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen.« Er küsste sie leicht auf die Wange und stand auf. Als er das Licht löschte, hörte er, wie sie sich in ihrem Bett umdrehte und tief einatmete. Er zog die Tür leise hinter sich zu.
Im Wohnzimmer legte er eine CD ein. Schumann, Klavierkonzert a-Moll. Die sanften Klänge erfüllten den Raum. Er goss sich einen Whisky ein und setzte sich aufs Sofa. Der Alkohol rann wohlig warm seine Kehle hinunter, er entspannte sich ein wenig. Die Eindrücke des Tages wichen einer angenehmen Leere in seinem Kopf. Sein Blick wanderte ziellos durch den Raum, bis er an einem gerahmten Foto über der antiken Anrichte haften blieb. Das Bild zeigte eine glückliche Familie. Margit, Lore und er lächelten in die Kamera. Im Hintergrund konnte man Loch Ness erkennen. Vor circa vier Jahren hatten sie die Sommerferien in Schottland verbracht. Seitdem war er Liebhaber des schottischen Malt Whiskys und ließ sich jährlich eine Kiste davon direkt aus Dufftown liefern. Sie hatten dort eine der zahlreichen Destillerien besucht. Vor diesem Urlaub hatte ihm Whisky eigentlich nicht geschmeckt, was sicherlich zum Teil an der minderwertigen Qualität der in Deutschland gängigen Marken lag. Aber seitdem er in Dufftown ein Glas eines 18 Jahre alten Malt Whiskys, der direkt aus einem Holzfass serviert worden war, gekostet hatte, schätzte er die karamellfarbene Flüssigkeit, deren feines Aroma für ihn ein wunderbares Geheimnis war, da er bei jedem neuen Glas weitere Nuancen entdeckte.
Er stand auf, schenkte sich ein zweites Glas ein und betrachtete das Foto. Vier Jahre – es kam ihm vor wie eine Ewigkeit. Vieles war seitdem geschehen, alles hatte sich verändert.
Der Unfall hatte sein Leben zerstört, hatte ihm die Frau, die er über alles geliebt hatte, für immer genommen. Einfach so, ohne Vorwarnung, ohne eine Chance, Lebewohl zu sagen. Dabei hatte alles so wunderbar begonnen an jenem Tag im Mai vor drei Jahren.
Margit und er waren auf dem Weg in ein verlängertes Wochenende in Holland an der See gewesen. Endlich einmal hatte er sich von der Arbeit im Präsidium loseisen können. Sie hatten ihre Koffer gepackt, die schmollende Lore bei seiner Mutter abgeliefert und waren bester Laune Richtung Grenze gefahren. In Gedanken war er bereits mit Margit am Strand entlanggewandert, hatte die würzige Seeluft riechen können, das Salz auf ihrer Haut geschmeckt. Er hatte reichlich Gas gegeben, wollte möglichst schnell seine Gedanken real werden lassen. Nur die Zeit auf der Autobahn hatte ihn noch getrennt, getrennt von einem traumhaften Wochenende mit einer umwerfenden Frau.
Margit hatte ihn gebeten, nicht so schnell zu fahren, aber er hatte nur schelmisch gelächelt und seinen Blick in ihr Dekolleté hinabwandern lassen. Den ausscherenden Lkw hatte er deshalb viel zu spät wahrgenommen. Er war auf die Bremse getreten, doch die Rücklichter waren in einer rasanten Geschwindigkeit immer näher gekommen. Er hatte nur noch einen dumpfen Knall gehört, dann war es dunkel geworden.
Das Gericht hatte den Lkw-Fahrer für schuldig erklärt, aber das hatte nichts geändert. Das brachte ihm Margit auch nicht zurück. Noch heute gab er sich die Schuld an dem, was geschehen war. Wenn er nicht so schnell gefahren wäre, wenn er aufmerksamer gewesen wäre, wenn …
Er ließ sich seufzend aufs Sofa fallen und starrte gedankenverloren in sein Glas.
In der ersten Zeit hatte er ihren Tod einfach ignoriert. Er hatte weitergemacht wie immer, der Realität keinen Einhalt geboten. Die Beerdigung hatte er in einer Art Trance erlebt, sich eingeredet, dass alles nur ein Traum sei. Ihre Sachen ließ er da, wo sie immer gewesen waren, nichts durfte verändert werden, alles blieb an seinem Platz. Abends vor dem Zubettgehen hatte er immer einen Spritzer ihres Parfums auf sein Kissen gegeben
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