Solomord
und war mit ihrem Duft in der Nase beruhigt eingeschlafen. Er hatte sich eingeredet, er müsse nur lange genug warten, dann würde eines Tages einfach die Tür aufgehen und sie würde lächelnd vor ihm stehen.
Die Einzige, die jedoch irgendwann vor ihm gestanden hatte, war seine Mutter gewesen. Lautstark hatte sie ihm Vorwürfe gemacht, ihn daran erinnert, dass er nicht allein auf dieser Welt war.
Nur widerwillig war er aus seiner Scheinwelt aufgetaucht, hatte angefangen, sich der Realität zu stellen. Margit würde nicht wiederkommen. Damit musste er fertig werden – Lore zuliebe. Das erste Mal nach der Beerdigung waren sie zusammen auf den Friedhof gegangen. Schweigend hatte er vor dem Grab gestanden, während Lore viele Fragen gestellt hatte, Fragen, auf die er keine Antwort hatte geben können.
Der Umzug war für ihn die Hölle gewesen. Zunächst hatte er sich für keine der angebotenen Wohnungen entscheiden können. Er hatte sich nicht vorstellen können, irgendwo anders zu leben als in der Wohnung, die er gemeinsam mit Margit ausgesucht und die sie so liebevoll eingerichtet hatte. Es hatte Wochen gedauert, bis er endlich in der Lage gewesen war, eine Entscheidung zu treffen, und es waren mindestens ebenso viele Wochen vergangen, bis er die Kraft gefunden hatte, Margits Sachen in Kisten zu räumen. An jedem Rock, jeder Bluse, jedem Bild, einfach jedem Stück, das ihr gehört hatte, schienen unendlich viele Erinnerungen zu hängen, und er hatte furchtbare Angst verspürt, dass diese in den braunen Pappkartons einfach in Vergessenheit geraten könnten. Dass diese Erinnerungen in seinem Kopf und Herzen lebten, hatte er erst viel später verstanden.
»Ich vermisse dich«, flüsterte er und goss sich noch einmal sein Glas bis zum Rand voll.
5
Als er am Morgen die ›Rheinische Post‹ aufschlug, sprang ihm das Bild von Michelle Roeder förmlich entgegen. Der Artikel war in Bezug auf die polizeilichen Ermittlungen zwar in einem freundlichen Ton gehalten, brachte aber deutlich zum Ausdruck, dass die Polizei keinerlei Kenntnisse über den Verbleib des Mädchens hatte. Er stand auf und goss sich eine Tasse Kaffee ein.
»Guten Morgen!« Lore betrat die Küche. Ihr Blick fiel auf die aufgeschlagene Zeitung.
»Ist das das verschwundene Mädchen?«
Er nickte.
»Was meinst du, was passiert ist?«
Brandt zuckte mit den Schultern. »Bisher wissen wir nur von einer Freundin, dass sie zu einem Mann ins Auto gestiegen ist.«
»Aber dann muss sie den Mann doch gekannt haben!«
Er blickte sie fragend an und sie erklärte, dass wohl kein Mädchen heutzutage einfach zu einem Fremden ins Auto steigen würde. »Das ist doch gefährlich.«
Er war froh, dass Lore über diese Einsicht verfügte, bezweifelte aber, dass alle Kinder so ausreichend aufgeklärt waren, und die Statistik zeigte, dass es irgendwelchen Erwachsenen immer wieder gelang, Mädchen und Jungen durch verschiedenartigste Versprechungen zum Mitgehen zu bewegen.
»Bist du fertig?« Lore nickte.
Im Treppenhaus trafen sie Herrn Wagner.
»Guten Morgen!«, grüßten sie freundlich. Der etwa Ende 30-jährige Mann nickte ihnen flüchtig zu. Er schien es eilig zu haben.
Aus dem Keller holte Brandt sein Fahrrad. Lore wartete am Treppenabsatz. Mühsam schleppte er sein Mountainbike die schmale und steile Kellerstiege hinauf und fluchte dabei lautstark über das Gewicht des Rades und die enge Bauweise des Kellers.
Es war nicht weit bis zur Schule seiner Tochter. Schweigend schob er sein Fahrrad neben Lore auf dem Gehweg.
»Ist es okay, wenn ich heute Nachmittag zu Katja gehe?« Er wunderte sich, dass sie fragte. Normalerweise teilte sie ihm lediglich mit, was sie am Nachmittag vorhatte. Das Verschwinden von Michelle Roeder hatte sie wohl verändert. Sie schien erwachsener. Er nickte. »Aber ruf an, wenn du wieder zu Hause bist. Sagen wir, gegen 18 Uhr?«
Er traf Frau Lutz vor dem Lehrerzimmer.
»Herr Brandt, guten Morgen!«
Er erwiderte ihren Händedruck und lächelte. »Lore hat mir erzählt, dass sie heute in der ersten Stunde über das verschwundene Mädchen sprechen. Ich wollte Ihnen meine Unterstützung anbieten.«
Die blonde Frau mit den kurzen Haaren lächelte zurück. Es sei furchtbar nett, dass er seine Hilfe anböte, zumal sie diese Aufgabe äußerst ungern für die kranke Klassenlehrerin übernommen hatte, aber ihr wäre es lieber, erst einmal ohne polizeilichen Beistand mit den Kindern zu sprechen. »Wir wollen sie nicht zu sehr
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