Sommer
Auseinandersetzung, Besprechung oder Einführung gegenüber; sollten Sie doch unrecht haben, so wird das natürliche Wachstum Ihres inneren Lebens Sie langsam und mit der Zeit zu anderen Erkenntnissen führen. Lassen Sie Ihren Urteilen die eigene stille ungestörte Entwicklung, die, wie jeder Fortschritt, tief aus innen kommen muß und durch nichts gedrängt oder beschleunigt werden kann. Alles ist austragen und dann gebären. Jeden Eindruck und jeden Keim eines Gefühls ganz in sich, im Dunkel, im Unsagbaren, Unbewußten, dem eigenen Verstande Unerreichbaren sich vollenden lassen und mit tiefer Demut und Ge
duld die Stunde der Niederkunft einer neuen Klarheit abwarten: das allein heißt künstlerisch leben: im Verstehen wie im Schaffen.
Da gibt es kein Messen mit der Zeit, da gilt kein Jahr, und zehn Jahre sind nichts. Künstler sein heißt: nicht rechnen und zählen; reifen wie der Baum, der seine Säfte nicht drängt und getrost in den Stürmen des Frühlings steht ohne die Angst, daß dahinter kein Sommer kommen könnte. Er kommt doch. Aber er kommt nur zu den Geduldigen, die da sind, als ob die Ewigkeit vor ihnen läge, so sorglos still und weit. Ich lerne es täglich, lerne es unter Schmerzen, denen ich dankbar bin: Geduld ist alles!
Briefe I (Franz Xaver Kappus, 23. 4. 1903), 46f.
M eine sehr liebe gnädigste Frau,
der Impuls, Ihnen von auswärts ein paar Worte zu schicken, ist wohl von allem Anfang mit mir herausgereist. Es beschämt mich nur, daß ich ihm so spät nachgebe. Ich rechne: wirklich, gestern waren es drei Monate, daß ich die Grenze überschritten habe, drei Monate, das heißt, der ganze Sommer liegt zwischen damals und heute – wie, wo mag er Ihnen, Lilinka und Wera vergangen sein? Ich hoffe, Sie waren nicht immerzu in München, – aber ich weiß auch nicht recht, wo gewesen zu sein ich Ihnen wünschen sollte. Meine Erinnerung hat immer Neumond auf München zu; sie scheint viel mehr in andere Vergangenheiten hinein, als in diese jüngste, die so vernutzt hinter mir zurückgeblieben ist, daß ich meine, mich zunächst von ihr abkehren zu dürfen. Und auf was zu? Ja, das ist eine unabsehliche Frage.
Stellen Sie sich vor, das »Draußen«-Sein war erst beinah anstrengend. Man konnte es doch nicht mehr so recht,
man verbrachte halbe Tage damit (oder wars nur ich?), vor den Parfümerien die Namen Houbigant, Roger und Gallet und Pinaud zu lesen; ja, einen kleinen Augenblick hieß die Freiheit so, – wer hätte das für möglich gehalten? Die Konditoreien machten mir lange nicht so viel Eindruck, ich habe noch bis heute keine Schokolade gekauft, aber Seifen taten mirs an, ich war richtig wehrlos gegen ein solches reinlich überfülltes Schaufenster der Züricher Bahnhofstraße. Über solche Umwege, mögen sie auch noch so lächerlich sein, gelangte ich langsam zu dem Übrigen: zu den französischen Buchhandlungen und Kunstsalons, zu dem Treiben der Straßen und Betriebe, ja, mit einiger Überwindung, sogar zu der Natur. Schade, daß sie mir in der Schweiz nur in Übertreibungen vorzukommen scheint; was für Ansprüche machen diese Seen und Berge, wie ist immer etwas zu viel an ihnen, die einfachen Augenblicke hat man ihnen abgewöhnt. Die Bewunderung unserer Groß- und Urgroßeltern scheint an diesen Gegenden mitgearbeitet zu haben; die kamen da aus ihren Ländern hergereist, wo es sozusagen »nichts« gab, und hier gab es dann »Alles«, in Pracht-Ausgaben. Lieber Himmel: eine Salon-Tisch-Natur, eine Natur mit Auf und Ab, voller Überfluß, voller Verdoppelung, voll unterstrichener Gegenstände. Ein Berg? bewahre, ein Dutzend auf jeder Seite, einer hinter dem anderen; ein See: gewiß, aber dann auch gleich ein feiner See, bester Qualität, mit Spiegelbildern reinsten Wassers, mit einer Galerie von Spiegelbildern, und der liebe Gott, als Kustos, eines nach dem anderen erklärend; wenn er nicht gerade als Regisseur beschäftigt ist, die Scheinwerfer des Abendrots nach den Bergen zu richten, von wo den ganzen Tag der Schnee in den Sommer hineinhängt, damit man doch so recht alle »Schönheiten« beisammen habe. Denn der Winter hat doch die seine, und so ists das
Vollkommenste, ihn nicht zu entbehren, während man mitten in den gewärmten Genüssen des Gegenteils sich geborgen fühlt …
Briefe II (Gertrud Ouckama Knoop, 12. 9. 1919), 159f.
D enn wenn der Baedeker da und dort unzulänglich ist, in Venedig ist er völlig unbrauchbar; man kann diese Stadt nicht nach seiner Auswahl sehen, in der
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