Sommer am Meer
praktisch alles. Ein schönes Haus, einen gutaussehenden Ehemann und die Kinder. Die Kinder machten alles wett. Für sie wollte sie ihre kriselnde Ehe kitten, für sie wollte sie eine Welt der Geborgenheit errichten, wie sie sie nie wieder erleben würden.
An dem Abend, als Anthony getötet wurde, war er bei Liz gewesen. Er war auf dem Rückweg von Relkirk auf einen Drink in dem ehemaligen Pfarrhaus vorbeigekommen und eingeladen worden, zum Abendessen zu bleiben.
Er rief Virginia an.
„Liz hat die Cannons da. Sie möchte, daß ich hier esse und den vierten Mann beim Bridge mache. Ich komm irgendwann spät nach Hause. Bleib nicht auf.“
Liz' Schrank mit der Whiskyflasche stand wie immer offen. Und wie immer bediente Anthony sich freizügig. Es war zwei Uhr, als er sich in einer schwarzen, sternenlosen Nacht auf den Heimweg machte. Es goß in Strömen. Es hatte seit Tagen geregnet, der Fluß hatte Hochwasser. Später kam die Polizei mit Maßbändern und Kreide, sie maßen die Schleuderspuren, hängten sich über das durchgebrochene Brückengeländer und blickten in das schlammige, reißende Wasser. Und Virginia stand im strömenden Regen dabei und sah den Tauchern zu. Ein freundlicher Polizist redete ihr zu, nach Hause zu gehen, aber sie wollte nicht, weil sie aus irgendeinem Grunde hier sein mußte, weil er ihr Mann gewesen war und der Vater ihrer Kinder.
Und sie erinnerte sich, was er an dem Abend gesagt hatte, als er ihr von Kirkton erzählte. Ich bedauere nur, daß es sein mußte, solange wir beide noch so jung waren.
8
D ie Nacht verging langsam. Die Sekunden und Minuten tickten auf Virginias Armbanduhr, die sie auf ihren Nachttisch gelegt hatte. Jetzt nahm sie sie in die Hand. Es war fast drei Uhr morgens. Sie stieg aus dem Bett, hüllte sich in eine Steppdecke und setzte sich auf den Fußboden ans offene Fenster. Die Dämmerung nahte, doch noch war es dunkel und ganz still. In der Ferne konnte sie die sachte Bewegung der See vernehmen wie leises Atmen. Sie hörte das Rupfen und Käuen der Kühe auf den Feldern, das Rascheln, Wispern und Kriechen in Hecken und Erdlöchern und den Schrei einer Nachteule.
Die Erinnerung an Liz quälte sie. Liz war zu Anthonys Beerdigung gekommen, mit einem Gesicht, aus dem Gram und Schuldbewußtsein so offenkundig sprachen, daß man sich instinktiv abwendete, um den Schmerz nicht mitansehen zu müssen. Bald danach war ihr Mann mit ihr nach Südfrankreich in Urlaub gefahren, und Virginia hatte sie nicht wiedergesehen.
Aber sie wußte, daß sie nach Schottland zurück mußte, möglichst bald, und sei es nur, um mit Liz ins reine zu kommen. Um Liz zu überzeugen, daß sie keine Schuld traf, um - so weit das menschenmöglich war - wieder Freundschaft mit ihr zu schließen. Sie dachte an die Rückkehr nach Kirkton, und ihre Phantasie trat diesmal nicht die Flucht an, sondern sah die Fahrt ruhig und ohne Schrecken vor sich. Sie sah sich die Straße entlangfahren, über die Brücke und dann die Zufahrt zwischen den üppigen Parkwiesen hinauf. Sie kam zu der kurvigen Auffahrt vor dem Haus, ging die Stufen hinauf und durch die Haustür hinein. Doch das gewohnte Gefühl von Einsamkeit, von einer zugeschnappten Falle war nicht mehr da, nur die Trauer, daß dem Leben der Menschen, die in diesem schönen Haus gewohnt hatten, kein dauerhafter Zusammenhalt beschieden gewesen war, sondern es sich aufgedröselt hatte wie ein Strang schlecht gesponnenes Garn, bis schließlich nur noch Fadenreste blieben.
Sie würde das Haus verkaufen. Irgendwo, irgendwann hatte sich in ihrem Unterbewußtsein dieser Entschluß gebildet, und er präsentierte sich ihr nun als vollendete Tatsache. Wieweit dies mit Eustace Philips zusammenhing, konnte Virginia im Moment nicht sagen. Später würde sich zweifellos alles von selbst ergeben. Fürs erste spürte sie eine ungeheure Erleichterung, wie das Abschütteln einer zu lange getragenen Last, und sie fühlte Dankbarkeit, wie wenn eine andere Person hinzugekommen wäre und den Entschluß für sie gefaßt hätte.
Sie würde Kirkton verkaufen. Ein anderes Haus kaufen, ein kleines... irgendwo. Auch das würde sich später von selbst ergeben. Sie wollte ein neues Heim schaffen, Freundschaften schließen, einen Garten anlegen, einen kleinen Hund anschaffen, ein Kätzchen, einen Kanarienvogel. Schulen für die Kinder finden, die Ferien mit Vergnügungen füllen, zu denen ihr früher das Selbstvertrauen gefehlt hatte. Sie wollte Ski laufen
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