Sommer unseres Lebens - Wiggs, S: Sommer unseres Lebens
sie tiefstes Mitgefühl. Ihr lag so viel an ihm. Es tat ihr weh, zu sehen, wie sehr es ihn schmerzte. Bis jetzt war sie in der Lage gewesen, sich von den Schmerzen anderer Menschen abzuschotten, doch mit Ross war es anders. Ross bedeutete ihr viel zu viel. Der Ansatz, mit dem sie in der Vergangenheit gut durchs Leben gekommen war, funktionierte bei ihm nicht. Sie sollte eine professionelle Distanz zu ihm wahren, doch stattdessen fing sie beinahe gegen ihren Willen an, eine vertrauliche Bindung mit ihm einzugehen.
Sie fürchtete, dass sie kurz davor stand, sich zu verlieben.
In Büchern und Filmen wurde dieser Augenblick immer so fröhlich dargestellt, als Beginn eines Lebens im Glück. In Claires Fall jedoch war er ein weiterer Stolperstein in ihrem Leben, um den sie einen Weg herum finden musste.
Verliebt zu sein war wie zu fallen – das gleiche Gefühl der Schwerelosigkeit und die gleiche Unausweichlichkeit des Ereignisses. Ein Fall war etwas, das man nicht aufhalten konnte. Und wenn man landete, verursachte er unweigerlich Schmerzen.
20. KAPITEL
I nnerhalb der nächsten Tage reiste nach und nach Georges restliche Familie an: seine Söhne Gerard aus Kapstadt und Louis aus Tokio zusammen mit ihren Ehefrauen und Kindern.
Sie kamen nach Camp Kioga wie Vasallen, die vom Monarchen gerufen wurden. Und George saß in einem großen Ohrensessel in der Lobby des Haupthauses und begrüßte jeden Einzelnen. Das Wiedersehen verlief meist tränenreich, aber ab und zu erhob sich auch ein Lachen über das konstante Gemurmel der Gespräche. Mit jeder neuen Ankunft schien George sich wohler zu fühlen und mehr Zufriedenheit auszustrahlen.
Claire wusste, dass das an der Macht der Familie lag. Die intimen Bande von Blut und gemeinsamer Geschichte waren miteinander verwoben und bildeten ein unsichtbares Sicherheitsnetz. Georges Krankheit war zwar nicht heilbar, aber dafür fand hier eine andere Art der Heilung statt. Ross schien es auch zu bemerken, als er seine Familie einander umarmen, Tränen aus den Augenwinkeln wischen und zusammen lachen sah. So schlimm eine tödliche Krankheit war, bot sie einer Familie doch auch die Chance, zueinanderzufinden. Claire war froh, dass die Bellamys diese Gelegenheit ergriffen hatten.
Einige der Verwandten nahmen sich Zimmer im historischen Inn am Willow Lake, das einem weiteren Bellamy gehörte – Charles Sohn Greg und dessen Frau Nina. Die meisten quartierten sich jedoch im Resort ein. Bald schon waren die Häuschen am See und die Bungalows von Menschen bewohnt, die gekommen waren, um George zu besuchen.
Trevors Frau und seine anderen Kinder kamen. Louis und seine Frau bekämpften ihren Jetlag mit Unmengen Koffein. Gerard war zwei Mal geschieden und hatte mehrere Kinder. Einige der Verwandten verströmten einen Optimismus, derentweder falsch oder erzwungen wirkte. Und einige hatten verständlicherweise einfach Angst. Der bevorstehende Tod eines geliebten Menschen hatte einen welterschütternden Einfluss auf Menschen, und Claire wusste, dass die schlimmste Art der Panik immer aus der Liebe heraus geboren wurde.
Nachdem alle Verwandten angekommen waren, versammelte man sich im Speisesaal zu einem gemeinsamen Dinner. „Versuch gar nicht erst, dir alle zu merken“, gab Ross ihr als Tipp, während er seinen Blick über die Lobby schweifen ließ, in der es vor Bellamys nur so wimmelte. „Irgendwann hast du raus, wer wer ist.“
„Es ist toll, so eine große Familie zu haben.“
„Nun, es kann auch ein etwas zweifelhafter Segen sein“, erwiderte er.
„Ich habe mich immer gefragt, was die Leute damit meinen – zweifelhafter Segen.“
„Du wirst es noch herausfinden.“ Er streckte seine Arme zu einer attraktiven Blondine aus, die mit klappernden Absätzen auf ihn zukam. Claire schätzte sie auf Mitte fünfzig, obwohl sie sich große Mühe zu geben schien, jünger zu wirken. Ihr Lächeln wirkte einstudiert und strahlte keinerlei Wärme aus.
„Claire“, sagte Ross. „Ich möchte dich gerne meiner Mutter vorstellen, Winifred Lamprey Bellamy Talmadge.“
Daher die fehlende Wärme, dachte Claire. „Nett, Sie kennenzulernen.“
„Und meine Tante Alice“, fügte Ross hinzu und deutete auf eine Frau, die etwas jünger und ein wenig fülliger war als Winifred, aber genauso modisch gekleidet und mürrisch blickend. „Sie ist Ivys Mutter.“
„Wir sind diejenigen, die die örtliche Polizei gebeten haben, nach George zu sehen“, bekannte Winifred.
Zumindest spielte sie keine
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