Sommer unseres Lebens - Wiggs, S: Sommer unseres Lebens
Moment gab es also nur sie und George.
Er kam ihr sehr konzentriert und entschlossen vor. Und bisher behauptete er auch, schmerzfrei zu sein.
Sie zeigte auf das Notizbuch in seinem Schoß. Die Seiten waren mit einer altmodischen Schrift bedeckt. „Sie waren sehr fleißig.“
„Ich habe eine Liste erstellt mit Dingen, die ich noch tun möchte. Halten Sie das für eine gute Idee?“, fragte er.
„Ich denke, das ist eine großartige Idee, George. Jeder hat so eine Liste mit Sachen, die er tun muss oder möchte, aber die meisten von uns haben sie hier.“ Sie tippte mit dem Finger an die Schläfe.
„Ich vertrau meinem Kopf dieser Tage nicht mehr“, gab er zu, ein indirekter Hinweis auf seinen Zustand – Glioblastoma multiforme, eine gnadenlos tödliche Krebsform. „Also habe ich angefangen, alles aufzuschreiben.“ Er blätterte durch die Seiten des Buchs. „Es ist eine ganz schön lange Liste“, sagte er beinahe entschuldigend. „Vielleicht schaffen wir nicht alles davon.“
„Wir können nicht mehr tun, als unser Bestes zu geben. Ich werde Ihnen dabei helfen“, sagte sie. „Dafür bin ich ja da.“ Sie ließ ihren Blick über die Straße vor ihnen schweifen. Mit Landstraßen war sie nicht vertraut. Auf ein Mädchen, das in den unruhigen Kleinstädten Jerseys und auf den überfüllten Straßen Manhattans aufgewachsen war, wirkten die waldbedeckten Hügel und felsigen Bergrücken des Ulster County wie eine außerirdische Landschaft. „Es ist gar nicht schlecht, viel zu tun zu haben“, fügte sie hinzu. „So vermeidet man, dass einem langweilig wird.“
Er lachte unterdrückt. „Wenn das so ist, haben wir einen geschäftigen Sommer vor uns.“
„Wir haben genau den Sommer vor uns, den Sie sich wünschen.“
Er seufzte und blätterte weiter. „Ich wünschte, ich hätte an diese Dinge gedacht, bevor ich wusste, dass ich sterben werde.“
„Wir sterben alle irgendwann“, rief sie ihm in Erinnerung.
„Wie bin ich nur an eine Krankenschwester mit einem so unglaublich sonnigen Gemüt geraten?“
„Ich wette, ein sonniges Gemüt würde Sie in den Wahnsinn treiben.“ Sie und George kannten einander zwar noch nicht lange, aber Claire hatte eine Gabe dafür, Menschen schnell zu erkennen. Für sie war das der Schlüssel zum Überleben. Einen Menschen falsch einzuschätzen hatte bereits einmal dazu geführt, dass sie ihr gesamtes Leben hatte ändern müssen.
George Bellamy machte auf sie einen besonnenen und belesenen Eindruck. Dennoch umgab ihn ein Hauch von Einsamkeit, und er schien etwas … zu suchen. Sie hatte noch nicht herausgefunden, was genau. Sie wusste sowieso noch nicht viel über ihn. Er war pensionierter Nachrichtenkorrespondent von einiger Berühmtheit. Er hatte die meisten Jahre seines Erwachsenenlebens in Paris verbracht und die Welt bereist. Doch jetzt, am Ende seines Lebens, wollte er an einen Ort reisen, der nichts gemein hatte mit den Hauptstädten dieser Welt.
Leben endeten in einer ebenso großen Vielfalt, wie sie gelebtwurden – manche still, manche mit Drama und Fanfaren, manche mit einem Gefühl des Abschlusses und viel zu viele mit großem Bedauern. Das war das schleichende Gift, das den Menschen die Freude stahl. Claire war immer wieder fasziniert davon, wie ein im Großen und Ganzen glückliches, erfolgreiches Leben von Reue zerstört werden konnte. Sie hoffte, dass Georges Suche ihn zu einem Ort führen würde, an dem Akzeptanz auf ihn wartete.
Diejenigen, die von ihrem Gebiet der Krankenpflege keine Ahnung hatten, dachten, dass die Sterbenden die Antworten auf die großen Fragen des Lebens hätten. Dass sie weiser oder spiritueller oder irgendwie tiefgründiger wären als die Lebenden. Das war jedoch ein Mythos, wie Claire gelernt hatte. Unheilbar kranke Menschen kamen in allen Sorten vor – weise, dumm, erfüllt von Glück oder Verzweiflung, logisch, verrückt, verängstigt … alles in allem waren die Sterbenden den Lebenden sehr ähnlich. Sie hatten nur ein kürzeres Haltbarkeitsdatum und sahen sich größeren körperlichen Herausforderungen gegenüber.
Die Landschaft wurde immer schöner und idyllischer, als sie sich in nordwestlicher Richtung den Catskills näherten, dem großen Naturschutzgebiet mit seinen reißenden Flüssen und dunklen Wäldern. Nach einer Weile sahen sie den ersten Hinweis auf ihr Ziel. Ein rustikales Schild, auf dem stand: Willkommen in Avalon– eine kleine Stadt mit großem Herzen.
Beinahe unmerklich fasste sie das Lenkrad fester.
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