Das Jesuskomplott. Thriller (German Edition)
Neun Tage vor der Auferstehung
Engel nahm den Finger von Sanikas Hals und wischte ihn an seiner Hose ab, als müsse er die Erinnerung an die kühle Haut von jeder Nervenfaser tilgen. Mit der rechten Hand versuchte er, die Augenlieder zu schließen, wie man es in Hollywoodfilmen tat, sie blieben aber nicht in dieser Position, und so starrte sie ihn weiterhin aus aufgerissenen, aber leblosen Augen an. Langsam hob Engel den Kopf und schaute zu Sarah auf, die wie angewurzelt zwei Meter neben der in einen weißen Sari gehüllten Leiche stand, den Blick auf das Regal auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers gerichtet, als könne sie damit die Wirklichkeit ausblenden. Engel stand auf, machte einen weiten Schritt über die in grotesker Verrenkung auf dem Boden liegende Tote, ging auf sie zu und berührte sie leicht am Arm. Sie zuckte zusammen, als hätte sie ein Stromschlag getroffen.
«Sanika ist tot, Sarah.»
Sie wendete ihm langsam den Kopf zu und verkrampfte dabei die Hände, als koste sie diese Bewegung die letzte Kraft. Kaum vernehmbar flüsterte sie:
«Wir sollten Pat holen.»
«Er kann ihr auch nicht mehr helfen, und seine Fähigkeiten als Gerichtsmediziner werden erst später gebraucht. Es ist wichtiger, nach Hinweisen zu suchen, warum sie sterben musste, bevor ...»
«Warum, warum!» Sarahs Stimme war plötzlich laut und kräftig, dabei höher als gewöhnlich. «Wir wissen doch eh, wie er es drehen wird. Ihr Tod passt ihm gut ins Konzept, glaub mir doch endlich.»
Engel hätte ihr in diesem Moment gerne widersprochen, um ihr und vor allem auch sich selbst Mut zu machen. Aber was sollte er sagen? Auch wenn er bei einer oberflächlichen Betrachtung der Leiche keine äußerlichen Spuren von Gewaltanwendung finden konnte, glaubte er nicht an einen natürlichen Tod. Der Körper lag seltsam verkrampft auf dem Boden, als hätte er sich in einem furchtbar schmerzhaften Todeskampf gewunden. Erbrochenes lag neben dem Kopf, und dem Geruch nach zu urteilen, hatte Sanika auch ihren Stuhlgang nicht halten können. Gesicht, Unterarme und Hände waren bläulich verfärbt. Nein, so sah kein Mensch aus, der an einem plötzlichen Herztod gestorben war, da war sich Engel sicher. Hawley würde die Todesursache später herausfinden, jetzt allerdings kam es darauf an, nach Beweisen zu suchen für die ungeheuerliche Theorie, mit der Sarah ihn vor einer Stunde konfrontiert hatte. Was hat Sanika ihr gesagt? Engel erinnerte sich noch genau an den Wortlaut: «Nicht alles ist so, wie es aussieht. Auch hier nicht. Ganz besonders hier nicht.»
Er ging zum Schreibtisch und setzte sich auf den altmodischen Drehsessel. Sanika Nuris Appartement unterschied sich deutlich von den Suiten der leitenden Teammitglieder. Es war einfach und funktionell eingerichtet. Neben dem Schlafraum und der Nasszelle gab es nur diesen kombinierten Wohn- und Arbeitsraum. Vor einem abgewetzten Sofa stand ein ovaler Rauchglastisch, darauf drei Styroporbehälter mit der Aufschrift «Delhi Delights». In einem steckte eine Plastikgabel, während ein Plastiklöffel zu Boden gefallen war. Augenscheinlich hatte sich Sanika ihr Abendessen von außerhalb liefern lassen und bevorzugte noch immer die scharf gewürzten Speisen aus dem Land ihrer Großeltern, obwohl sie selbst in Harrow im Nordwesten Londons geboren und aufgewachsen war. Der Schreibtisch war aufgeräumt, nur eine einzige Aktenmappe lag exakt ausgerichtet am rechten Rand. Engel schlug sie auf. Sie enthielt drei eng mit einer Art Steno beschriebene Blätter, vermutlich Sanikas Protokollnotizen der abendlichen Gruppensitzung. Engel zog die Computertastatur zu sich und drückte die Enter-Taste, woraufhin der Bildschirmschoner verschwand und der Dateiexplorer erschien. Engel klickte sich durch einige Ordner. Alle waren klar strukturiert: Korrespondenz und Protokolle zeitlich geordnet, dazu je ein Ordner pro Themenbereich: Grab, Ossuarien, DNA-Spuren und so weiter. In jedem dieser Ordner befanden sich zahlreiche Unterordner, in denen die Berichte der entsprechenden Teammitglieder abgelegt waren. Der Fortschritt ihrer Arbeit der letzten Wochen war komplett dokumentiert und jederzeit nachvollziehbar. Sanika Nuri war die perfekte Sekretärin und Assistentin.
Engel klickte auf den Reiter mit der Bezeichnung «Grab». Er enthielt weitere Unterordner, in denen sich die Zeichnungen des Fundes, die Berichte der Techniker, die Fotos sowie seine eigene Dokumentation zur zeitlichen Einordnung in den historischen
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