Sommerkind
“Wenn Shelly hier draußen ist, werden wir sie finden”, hatte Rory ihr versichert. Daria hatte ihnen von Shellys Verschwinden erzählt, nachdem sie das Sea Shanty von oben bis unten durchsucht hatte. In der Werkstatt, in den Schränken und unter den Betten hatte sie nachgesehen, doch Shelly war nicht zu finden gewesen. Pete hatte recht, dachte sie. Shellys Urteilsvermögen war eine Katastrophe. Sie brauchte mehr Beaufsichtigung, als Daria ihr geben konnte.
Am Strand hielten sich noch einige wackere Gestalten in Windjacken auf. Die Haare flatterten wild um ihre Gesichter, während sie aufs Meer hinausblickten und sich den dunkler werdenden Himmel und die peitschenden Wellen ansahen. Daria und Chloe sprachen kein Wort. Es war zu anstrengend: Der Wind würde die Worte verschlucken, kaum, dass sie den Mund verlassen hätten. Schon das Gehen war mühsam, und der Gedanke an Shelly, die irgendwo da draußen den Dingen allein trotzen wollte, trieb Daria an den Rand der Verzweiflung. Doch nachdem sie, Chloe, Rory und Zack den Strand in beide Richtungen sorgfältig abgesucht hatten, war sie sicher, dass sich ihre Schwester doch nicht am Meer aufhielt. Auch die Sturm-schaulustigen waren verschwunden. Vermutlich hatten sie den Rat des Wetterdienstes befolgt und befanden sich bereits auf dem Weg aufs Festland.
Nochmals suchte Daria jeden Winkel ihres Hauses ab, sah sogar in ihrem Wagen nach sowie in den Autos von Chloe und Rory – doch nichts. Es war fast Mittag, und Jill und ihre Familie, Linda, Jackie und die Hunde hatten die Sackgasse schon längst verlassen. Allein die Wheelers waren noch da. Sie packten ihren Geländewagen und den Kombi mit Koffern und Kindern voll.
Daria stand mit Rory auf der leer geräumten Veranda. Sie hatte eine Heidenangst. Das volle Haar wirbelte um ihren Kopf, und sie zog den Anorak enger um den Körper. “Du und Zack müsst jetzt auch weg von hier”, sagte sie.
“Und was hast du vor?”
“Ich fahre nicht ohne Shelly.” Das Zucken um ihren Mund verriet ihren Kummer, und Rory drückte zärtlich ihren Arm.
“Dann bleibe ich auch.” Er sah zum Wheeler-Cottage hinüber. “Ich will nur schnell fragen, ob Zack mit ihnen fahren kann; der wird ausrasten vor Freude. Dann kann ich bei dir bleiben.”
“Du solltest besser mitfahren”, riet Daria, obwohl es ihr das Herz brach. “Vielleicht können wir später nicht mehr weg, und dann könnte es gefährlich werden. Und wartet Grace nicht auch im Motel auf dich?”
“Ja, aber wenigstens ist sie dort in Sicherheit. Ich kann nicht einfach fahren, wenn ich weiß, dass Shelly hier noch irgendwo ist.” Wieder warf er einen Blick zur Auffahrt der Wheelers. “Ich bin gleich zurück.”
Sie sah ihm nach, als er zu den Nachbarn hinüberging und mit Ruth Wheeler sprach. Die Tränen brannten in ihren Augen, so sehr wünschte sie sich, dass er blieb. Nur wenige Momente später lief er zum Poll-Rory, vermutlich, um Zack vorzuschlagen, mit den Wheelers zu fahren. Daria stand immer noch auf der Veranda, als Zack mit einem Seesack über der Schulter in der Tür erschien. Auf dem Weg zu den Wheelers winkte er ihr zu. Fast zeitgleich kam Rory wieder auf die Terrasse. “Alles klar”, sagte er. “Ich gehöre dir, solange du mich brauchst.”
Chloe betrat die Veranda. “Wie ich Shelly kenne, hat sie sich in einem der leeren Cottages verkrochen”, meinte sie. “Wir sollten überall nachsehen.”
Chloe könnte recht haben. Genau das hatte Shelly schon vor einigen Jahren während eines Sturms gemacht. Sie war raffiniert genug, um irgendwo hineinzukommen. Aber war sie auch klug genug, ein Haus auszusuchen, das möglichst weit vom Wasser entfernt stand? Doch das alles war nichts als Spekulation. Sie könnte überall sein. “Nur – wenn sie tatsächlich in einem der Cottages ist, wird sie nicht öffnen, wenn wir klopfen”, gab Daria zu bedenken.
“Deshalb werden wir ja auch nicht anklopfen”, sagte Chloe. “Wir schleichen nur um die Häuser herum und sehen nach, ob wir sie irgendwo entdecken.”
“Ich fange bei Jill an”, meinte Rory. “Danach teilen wir uns auf und suchen die Straßen auf der anderen Seite der Strandstraße ab.”
“Achtet auf Licht”, riet Daria ihnen, als sie gemeinsam auf die Sackgasse traten. Sie setzte die Kapuze auf und hielt sie unter ihrem Kinn mit der Hand zusammen. Inzwischen war es so dunkel geworden, dass sie die Gesichter von Rory und ihrer Schwester kaum noch erkennen konnte. Shelly liebte die Dunkelheit nicht
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