Sommerkind
gerade. Wenn sie tatsächlich eines der Cottages in Beschlag genommen hatte, würde sie das Licht einschalten.
Nur leider brannte nirgendwo Licht. Sie hielten an Jills und Lindas Haus Ausschau und durchforsteten danach sechs Straßen westlich der Strandstraße. Doch auch dort lagen die Häuser allesamt einsam im Dunkeln. Es könnte auch Winter sein, so ausgestorben wie alles ist, dachte Daria. Nicht einmal Autos standen an der Straße. Hin und wieder pustete sie der Wind förmlich um und trieb ihr die Tränen in die Augen. Auf ihrem Weg flogen ihr einzelne Schilder sowie ein Spielzeugeimer und ein Mülltonnendeckel entgegen – Geschosse, die durch die düstere Luft sausten.
Es hatte zu regnen angefangen, und während sich Daria zurück zum Sea Shanty kämpfte, schossen ihr die Tropfen wie Pfeile ins Gesicht. Als sie ankam, waren Rory und Chloe schon da, und jede Hoffnung, dass einer von ihnen Shelly gefunden hätte, zersprang beim Anblick ihrer niedergeschlagenen Gesichter in tausend Stücke. Sie fing an zu weinen und war überrascht, als Rory sie in den Arm nahm.
“Es geht ihr bestimmt gut”, beruhigte er sie. “Chloe und ich glauben, sie könnte in der Kirche sein.”
Auf einmal löste Daria sich aus der Umarmung. St. Esther's!
“Ich wollte gerade dort anrufen”, fügte Chloe hinzu. “Bin gleich zurück.”
Während Chloe im Haus telefonierte, malte sich Daria aus, wie Shelly sich in der Kirche versteckte. Dort würde sie sich ohne Zweifel sicher fühlen. Natürlich war sie dort! Sie hatte sogar einen Schlüssel. Der Gedanke, dass sie gesund und wohlbehalten in dem Gotteshaus war, beruhigte sie.
In dem Moment bog ein Auto in die Sackgasse ein, und in der irrationalen Hoffnung, Shelly könnte darin sitzen, ging Daria ihm entgegen. Als das Auto vor dem Sea Shanty hielt, musste sie sich breitbeinig hinstellen, um nicht umgeweht zu werden. Sie erkannte das Emblem des Sheriff-Büros an der Fahrertür, und wenig später mühte sich auch schon Deputy Don Tibble ab, die Wagentür gegen den Wind zu öffnen. Er war allein. Daria wusste, dass er vermutlich eine Kontrollfahrt durch Kill Devil Hills machte, um sicherzustellen, dass alle Einwohner ihre Häuser verlassen hatten.
“Daria?”, fragte er. “Sind Sie das?”
Die Kapuze ihres Anoraks verhüllte beinahe ihr Gesicht. “Ja”, antwortete sie. “Haben Sie Shelly irgendwo gesehen?”
Don lehnte sich gegen den Wagen, der Wind zerrte an seiner Uniform. “Sagen Sie nicht, sie ist schon wieder verschwunden!”
“Doch, und diesmal können wir sie einfach nicht finden.”
“Menschenskind, dieses Mädchen. Aber Sie wissen, dass Sie schnellstens hier wegmüssen, nicht wahr, Daria? Sonst lässt Sie der Wind nicht mehr über die Brücke. Ihnen bleiben höchstens noch dreißig Minuten.”
“Ich kann nicht ohne sie fahren.”
Don stemmte die Hände in die Hüften und blickte an ihr vorbei zum Sea Shanty. “Ist Schwester Chloe bei Ihnen?”
“Ja. Und Rory Taylor.”
“Dann gehen Sie wenigstens in ein höher gelegenes Haus.”
“Ich bleibe lieber hier, falls Shelly zurückkommt. Ich kenne die Gefahren.”
“Das weiß ich. Hören Sie, ich werde nach ihr Ausschau halten, okay? Und ich werde auch die anderen Deputies dazu anweisen.”
“Danke, Don.”
Er warf einen Blick auf die beiden Wagen in der Auffahrt. “Bringen Sie zumindest die Autos an eine höher gelegene Stelle.”
Daran hatte sie noch keine Sekunde gedacht. Ein sicheres Zeichen, dass ihr Gehirn nicht normal funktionierte. “Ja, gut”, sagte sie.
Chloe trat auf die Veranda. “Hi Don”, rief sie.
“Hallo Schwester. Ich habe Daria gerade gesagt, dass Sie wirklich besser verschwinden sollten.”
“War jemand in der Kirche?”, fragte Daria ihre Schwester.
“Nein, keine Antwort.”
Daria wandte sich an Don. “Besteht die Möglichkeit, dass Sie die St.-Esther's-Kirche kontrollieren? Shelly könnte dort sein. Aber sie wird sich bestimmt vor jedem verstecken, der versucht, sie zu finden.”
“Bruce fährt in der Gegend Streife. Ich funke ihn gleich mal an, um das abzuklären.”
Nachdem Don weggefahren war, brachten Daria, Chloe und Rory ihre Autos zur westlichen Seite der verlassenen Strandstraße. Auf dem Rückweg zum Sea Shanty durchpflügten sie Wind und Regen, und am Cottage angekommen, schafften Rory und Daria es nur mit vereinten Kräften, die Verandatür zu öffnen. Daria wusste, dass sie, einmal im Haus, nirgends mehr hingehen würden – und dass die
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