Sommerkind
weiteres Cottage zwischen ihrem Haus und dem Meer lag, gelangte Daria schnell zu der niedrigen, von Strandhafer bewachsenen Düne, die über den Strand wachte. Von dort warf sie einen Blick zu dem Cottage, in dem Cindy Trump lebte. Es war das einzige Haus in der Sackgasse, das unmittelbar ans Meer grenzte, und Daria wollte sich vergewissern, dass der Sturm es nicht beschädigt hatte. Es war in bestem Zustand. Sie beneidete Cindy und ihren Bruder um die exklusive Lage ihres Häuschens, aber ihr Vater hatte gesagt, der Strand in Kill Devil Hills werde schmaler und Cindys Cottage würde eines Tages vom Ozean verschluckt. Dennoch stellte sie es sich schön vor, vom eigenen Zimmer aus nichts als das türkisblaue Meer zu sehen.
Der Strand war herrlich! Der Sturm hatte den Sand rein gewaschen, und die Flut hatte ein breites dunkles Muschelband zurückgelassen, das nur darauf wartete, von ihr verlesen zu werden. Die Sonne zeigte sich bereits als schmaler Kupfersplitter am Horizont über dem Ozean, der so ruhig war, dass er eher einem See als dem offenen Meer glich. Keine wilden, schaumigen Wellen wie in der Nacht zuvor. Sie setzte sich auf die Düne, grub ihre Füße tief in den feuchten Sand und sah der Sonne bei ihrem raschen Aufstieg in den changierenden Himmel zu.
Übersät mit den großen braunen Panzern der Pfeilschwanzkrebse, erweckte der Strand im rötlichen Morgenlicht den Eindruck, man befände sich auf einem anderen Stern. Irgendwie unheimlich. Zwar war Daria von dieser Vielzahl an Muscheln fasziniert, doch nach wenigen Momenten war sie mit ihren Gedanken schon wieder bei dem sozialen Dilemma, vor dem sie diesen Sommer stand. Obwohl die Catos erst vor knapp einer Woche im Sea Shanty angekommen waren, konnte Daria sich ausmalen, wie der Sommer ablaufen würde – und dieses Bild war alles andere als farbenfroh. Im Geiste ging sie die Kinder aus ihrer Straße durch und hoffte, sich beim Alter des einen oder anderen vertan zu haben. Chloe war siebzehn und Ellen, die fast den ganzen Sommer mit ihnen verbringen würde, fünfzehn. Cindy Trump war sechzehn, ihr Bruder Todd dreizehn. Dann gab es noch die siebzehnjährigen Zwillinge Jill und Brian Fletcher, die im Cottage neben dem Poll-Rory wohnten. Neben ihnen wiederum wohnte dieses stille Mädchen Linda; sie war vierzehn und steckte ihre Nase stets in irgendein Buch. Das Haus zur Rechten des Sea Shanty gehörte den Wheelers, einem älteren Ehepaar, dessen drei Kinder schon aus dem Haus waren. Im letzten Jahr hatte Daria einmal mit Rorys Schwester Polly gespielt. Sie war fünfzehn, aber geistig zurückgeblieben, sodass sie wesentlich jünger wirkte. Doch selbst Polly war in diesem Sommer in ihrer Entwicklung weit an Daria vorbeigezogen – und wenn auch nicht hinsichtlich ihrer Interessen, dann doch zumindest, was das Körperliche betraf. Sie hatte Brüste, um die Chloe und Ellen sie heiß beneideten.
Als die Sonne wie ein Ball am Horizont stand, lief Daria auf das einladende Muschelband zu. Die Taschen ihrer Shorts waren tief, sie würde also jeden Schatz nach Hause tragen können. Auch wenn das ihre Mutter verärgern würde, die sich neuerdings darüber beschwerte, dass sie jeden Sommer eimerweise “nutzloses Zeug” mit nach Hause brachte.
Daria folgte dem Muschelband ein Stückchen, und als sie auf Höhe des Trump-Hauses angelangt war, entdeckte sie inmitten der Muscheln plötzlich den größten Pfeilschwanzkrebs-Panzer, den sie je gesehen hatte. Er kam ihr eigenartig vor, denn er stand irgendwie hoch, ganz so, als läge der Krebs noch darunter. Neugierig stupste sie die braune Kugel mit ihrem sandbeschmutzten Zeh an, bis sie auf den Rücken kullerte. Daria blinzelte ungläubig. Ein blutverschmiertes Baby! Ehe sie sich's versah, rannte sie auch schon kreischend und mit wedelnden Armen durch den Sand davon. Jetzt wünschte sie sich, nicht mutterseelenallein am Strand zu sein.
Sie war bereits ein ganzes Stück gerannt, als sie abrupt stehen blieb. Hatte da wirklich ein Baby gelegen? Konnte es nicht auch eine Puppe gewesen sein? Bestimmt war nur die Fantasie mit ihr durchgegangen. Sie warf einen Blick über die Schulter. Nein, sie war sicher, dass es ein echtes Menschenbaby war. Sie meinte sogar, sich an die kleine, fast unmerkliche Bewegung eines winzigen Fußes erinnern zu können. Reglos stand sie am Strand und drehte sich erneut zu dem Krebspanzer um. Na gut, vielleicht war es ja
tatsächlich
ein Baby, aber dann war es wohl kaum am Leben. Zögernd ging sie
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