Sommerkind
Wahrscheinlichkeit, Shelly noch in dieser Nacht wiederzusehen, gleich null war. Sie konnte nur hoffen, dass ihre Schwester sicher und friedlich auf einer Kirchenbank schlief.
Sie öffneten die Sturmläden etwa einen Fingerbreit und sammelten dann für den Fall eines Stromausfalls Kerzen und eine Sturmlaterne zusammen. Im Wohnzimmer sahen sie sich gemeinsam im Wetterbericht die Entwicklung des Hurrikans an. Der Reporter war durchnässt und vom Wind zerzaust, obwohl er und sein Team mittlerweile nicht mehr von den Outer Banks, sondern vom Festland aus berichteten. Das Auge des Sturms steuere auf Hatteras Island zu, berichtete er. Wenigstens würde Kill Devil Hills nicht die volle Wucht abbekommen. Trotzdem – der wirbelnde Wolkenstrudel kreiste auf der Wetterkarte direkt über ihnen.
Nur die Uhr sagte ihnen, dass es Zeit zum Abendessen war. Weder hatte irgendwer besonders großen Hunger, noch war viel zu essen im Haus. Doch Daria fand noch ein wenig Käse und zwei Dosen Suppe in der Vorratskammer.
“Ich habe noch etwas Brot drüben”, bot Rory an.
“Du kannst da unmöglich rausgehen.” Daria warf einen Blick zum Fenster. Zwar konnte sie durch die Sturmläden nichts sehen, wusste jedoch, dass draußen pechschwarze Dunkelheit herrschte. Auch die Geräusche des Windes und der See klangen bedrohlich. “Du wirst weggeweht.”
“Ich glaube, wir haben noch Brötchen im Gefrierschrank”, meinte Chloe.
Sie stückelten ein Abendbrot aus Käsebrötchen und Linsensuppe zusammen und aßen gemeinsam am Küchentisch.
“Wir sind verrückt hierzubleiben”, sagte Daria. In Gedanken war sie der Zeit schon voraus. Woher sollten sie wissen, wie hoch das Wasser steigen würde? Sollten sie besser nach oben gehen, für alle Fälle? Ja, sie hatte Vertrauen in Bauweise und Fundament des Sea Shanty. Aber sie konnte sich auch noch gut an das Bild des Trump-Cottage erinnern, wie es aufs Meer hinausgetrieben war. Das war ein Wintersturm, rief sie sich ins Gedächtnis. Dieser Sommerhurrikan würde wohl kaum dieselben Ausmaße annehmen.
Sie hatten gerade den letzten abgetrockneten Teller zurück ins Regal geräumt, als das Licht zweimal flackerte und dann erlosch. Nun standen sie buchstäblich im Dunkeln.
Daria tastete auf dem Tresen nach der Taschenlampe und schaltete sie ein. “Wo auch immer Shelly jetzt sein mag, sie muss schreckliche Angst haben”, sagte sie.
“Dann ist sie beim nächsten Mal hoffentlich klüger.” Chloes Worte klangen harsch, doch der Ton ihre Stimme verriet Daria, dass sie sich genauso um Shelly sorgte wie sie selbst.
“Wo hast du das Sturmlicht hingestellt?”, fragte Rory Daria.
“Ins Wohnzimmer. Lasst uns alle rübergehen. Da steht auch das Radio.”
Im Wohnzimmer zündeten sie die Laterne und einige Kerzen an. Chloe setzte sich aufs Sofa, Rory auf einen Stuhl neben dem Radio. Nur Daria stand am Fenster und versuchte, durch die Spalte in den Sturmläden einen Blick nach draußen zu werfen. Sie wünschte, Don hätte sich gemeldet. Keine Nachrichten waren schlechte Nachrichten.
“Setz dich, Daria”, forderte Chloe sie auf. “Wir können jetzt ohnehin nichts für Shelly tun.”
Daria ließ sich auf einen Stuhl fallen. Chloe hatte recht. Sich verrückt zu machen würde auch nicht helfen.
Über dem Cottage donnerte es, und Lichtblitze drangen durch die Ritzen der Sturmläden. Eine Zeit lang lauschten sie trotz der atmosphärischen Störungen den Radioberichten, doch schon bald gaben sie es auf. Sie waren ohnehin dichter am Sturm als jeder Nachrichtensprecher. So schalteten sie das Radio aus, saßen einfach nur da und hörten dem Sturm zu.
Die Atmosphäre im Haus veränderte sich auf eigentümliche Weise. Trotz der wütenden Geräusche, die von draußen hereindrangen, war die stickige Wärme drinnen merkwürdig heimelig. Die Flammen der Kerzen durchbohrten die Dunkelheit, und trotz ihrer Sorge um Shelly entspannte sich Daria allmählich.
“Ich denke darüber nach, meinen Orden zu verlassen”, sagte Chloe unvermittelt.
In der besonderen Stimmung des Wohnzimmers klang ihre Stimme fremd und geisterhaft, und Daria verstand nicht recht.
“Du meinst … du willst in einen anderen Orden eintreten?”, fragte sie.
“Nein. Dann würde ich nirgendwo mehr eintreten.” Chloe sprach langsam. “Ich will damit sagen, ich wäre dann nicht länger Nonne. Ich würde darum bitten, mir den Dispens zu erteilen.”
“
Chloe.”
Daria war verblüfft. “Ich dachte immer, du liebst deine Arbeit. Ich dachte,
Weitere Kostenlose Bücher