Sommerkind
“Wo am Strand?”
“Direkt vor dem Cottage von Cindy Trump”, antwortete Daria.
Ihre Mutter und Tante Josie tauschten einen vielsagenden Blick. Das taten die Leute immer, wenn die Rede von Cindy Trump war, aber Daria hatte keine Ahnung, warum.
“Die Plazenta ist noch dran”, sagte Tante Josie fachmännisch. Damit musste sie den Blutberg meinen.
“Ich weiß.” Sue Cato spülte das Tuch unter dem Wasserhahn aus und schüttelte den Kopf. “Ist das nicht unglaublich?”
Daria dachte an Chloe und Ellen, die immer noch schliefen. Sie sollten das auf keinen Fall verpassen. Sie war schon auf dem Weg zur Küchentür, als ihre Mutter fragte: “Wohin gehst du?”
“Chloe und Ellen holen.”
“Es ist noch nicht mal acht. Lass sie noch schlafen.”
“Teenager schlafen den Schlaf des Gerechten, das kann ich dir sagen”, fügte Tante Josie hinzu.
Zwar würden Chloe und Ellen ihr später Vorwürfe machen, weil sie sie nicht geweckt hatte, doch Daria hielt es im Augenblick für das Beste zu gehorchen. Sie trat wieder nah an den Tisch heran und beobachtete, wie ihre Mutter für ein paar Sekunden die Klingen einer Schere in das kochende Wasser tauchte und dann damit die Schnur durchtrennte, die aus dem Bauch des Babys kam. Endlich war das Kind von der furchtbaren matschigen Masse befreit. Tante Josie holte ein Handtuch aus dem Badezimmer, und Darias Mutter wickelte das frisch gewaschene Baby darin ein. Dann nahm sie das Bündel auf den Arm. Sie wiegte es sanft hin und her. “Armer kleiner Schatz”, flüsterte sie. “Armes verstoßenes Ding.” Daria hatte den Eindruck, der Blick ihrer Mutter sei seit Jahren nicht so lebendig gewesen.
Die Polizei und das Rettungsteam trafen schon nach wenigen Minuten ein. Einer der Rettungsassistenten – ein junger langhaariger Mann – musste Darias Mutter das Baby förmlich entreißen. Noch immer in Bademantel und Hausschuhen, folgte sie dem Kind bis zum Krankenwagen. Sie sah dem wegfahrenden Fahrzeug nach, und auch als es längst auf die Strandstraße abgebogen war, stand sie noch minutenlang da.
Die Polizisten hatten eine Menge Fragen, vor allem an Daria. Sie saßen mit ihr auf der Veranda und gingen die Details ihres Fundes so lange durch, bis sie sich selbst schuldig fühlte. So als hätte sie einen unverzeihlichen Fehler gemacht und würde jeden Moment ins Gefängnis gesteckt. Nach einer halben Stunde schickten sie sie ins Haus und wandten sich an ihre Eltern und Tante Josie. Daria setzte sich im Wohnzimmer in den Korbsessel, der direkt neben dem Fenster zur Veranda stand, sodass sie jedes Wort der Erwachsenen mithören konnte.
“Können Sie uns sagen, was für Mädchen im Teenageralter in der Straße leben?”, fragte einer der Polizisten.
Tante Josie begann sie aufzuzählen. “In dem Haus dort am Strand, da lebt so ein naives Ding. Cindy Trump. Die Jungs hier nennen sie Cindy
Tramp
, weil sie vom einen zum Nächsten zieht, wenn Sie verstehen, was ich meine.”
“Ach, so solltest du das aber nicht sagen, Josie”, wies Darias Mutter sie zurecht.
“Ich habe sie gestern noch gesehen”, meinte Darias Vater. “Und sie kam mir nicht schwanger vor.”
Daria neigte ihren Kopf leicht zur Seite, um das spannende Gespräch besser verstehen zu können.
“Ich habe sie auch gesehen”, sagte Tante Josie. “Sie trug ein weites weißes Männershirt. Darunter hätte sie alles Mögliche verstecken können.”
Daria konnte das resignierte Achselzucken ihres Vaters fast hören. Tante Josie war mit seinem vor fünf Jahren verstorbenen Bruder verheiratet gewesen, und anscheinend schaffte sie es immer wieder aufs Neue, bei Darias Dad ihren Kopf durchzusetzen.
Tante Josie setzte erneut an. “Dann ist da noch dieses Mädchen Linda, das …”
“Sie ist erst vierzehn”, protestierte Darias Mutter. “Und sie ist so schüchtern, dass sie noch nicht mal mit Jungs reden kann, geschweige denn …” Ihre Stimme verlor sich.
“Wir wüssten trotzdem gerne, welche Mädchen noch in der Straße wohnen”, sagte der Polizist. “Egal, ob Sie sich eine von ihnen als Kindsmutter vorstellen können oder nicht. Was ist denn mit diesem Haus? Leben hier noch andere Mädchen außer dem Supergirl Daria?”
Supergirl?
Daria grinste in sich hinein.
“Ja”, antwortete Darias Vater, “aber das sind gute katholische Mädchen.”
“Meine Tochter Ellen ist fünfzehn”, warf Tante Josie ein, “und ich kann ihnen versichern, dass sie nicht schwanger war.”
“Das gilt auch für unsere
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