Sommerkind
Das Baby war nicht das Einzige, was sie an diesem Morgen am Strand gefunden hatte.
1. KAPITEL
Z weiundzwanzig Jahre später
Darias dreiunddreißigster Geburtstag unterschied sich nicht wesentlich von den anderen Tagen Anfang Juni. Mit den ersten Urlaubern, die in die Küstenregion kamen, kehrte allmählich auch das Leben auf die Outer Banks zurück, und es schien, als würden schlagartig auch Luft und Meer wärmer. Daria verbrachte den Tag mit ihrem Tischlerkollegen Andy Kramer. Gemeinsam gestalteten sie in einem Haus in Nag's Head eine Küche neu. Während sie Wandschränke und Arbeitsplatten montierte, kämpfte Daria die ganze Zeit über gegen die Melancholie an, die seit anderthalb Monaten ihr ständiger Begleiter war.
Andy hatte darauf bestanden, ihr zum Geburtstag das Mittagessen zu spendieren – Hühnchensandwich mit Pommes Frites bei Wendy's. Die beiden saßen sich am Tisch gegenüber. Während sie an ihrem Sandwich nagte und er seine drei Hamburger und zwei Portionen Pommes verschlang, stellten sie den Arbeitsplan für den Nachmittag auf. Trotz seines gesegneten Appetits war Andy rank und schlank. Das blonde Haar trug er zum Pferdeschwanz gebunden, der ihm bis zur Rückenmitte reichte, ein goldener Ring zierte sein Ohrläppchen. Er war erst Mitte zwanzig. Wahrscheinlich kann er deshalb essen, was er will, ohne auch nur ein Gramm zuzunehmen, vermutete Daria.
“Und”, fragte er, als er gerade seinen letzten Burger verdrückte, “gehst du heute Abend feiern?”
“Nein, ich werde nur mit Chloe und Shelly ein bisschen Kuchen essen.”
“Richtig. Shelly hat ja heute auch Geburtstag.”
“M-hm. Sie wird zweiundzwanzig.” Kaum zu glauben. In ihren Augen war Shelly immer noch ein Kind.
Andy nahm den letzten Schluck von seiner Limonade und stellte den leeren Becher auf dem Tablett ab. “Ich finde, du und Shelly solltet heute Abend die Stadt unsicher machen.”
“Ich unterrichte gleich noch eine Klasse auf der Feuerwache”, sagte Daria, als wäre das der Grund, der sie von einer Kneipentour abhielt.
“Ach tatsächlich?” Andy sah überrascht aus. “Ich dachte, du bist nicht mehr …”
“Ich bin keine Rettungsassistentin mehr, nein”, beendete Daria seinen Satz. “Aber ich möchte trotzdem noch als Dozentin arbeiten. Das heute ist meine erste Klasse seit … seit einiger Zeit.”
Sicher wusste er, dass sie seit April nicht mehr unterrichtet hatte, als das Flugzeug ins Meer gestürzt und fortan ihr gesamtes Leben durcheinandergeraten war. Aber er war klug genug, den Mund zu halten. Daria war unwohl bei dem Gedanken, wieder vor einer Klasse zu stehen. Heute Abend würde sie ihre ehemaligen Kollegen zum ersten Mal wieder sehen; zum ersten Mal, seit sie den Freiwilligen Rettungsdienst verlassen und die anderen völlig verwirrt – und unterbesetzt – zurückgelassen hatte. Sie hatte Angst, ihr Vertrauen verspielt zu haben.
Gemeinsam mit Andy verließ sie das Restaurant und überlegte, wie
er
wohl mit ihrer Kündigung zurechtkam, wo es doch sein sehnlichster Wunsch war, Rettungsassistent zu werden. Er war zweimal durch die Prüfung gefallen, und Daria war sich sicher, dass er sie nie bestehen würde. Doch er versuchte es unbeirrt weiter. Trotzdem – auch er war bei dem Flugzeugabsturz im April dabei gewesen und musste einfach verstehen, wie entsetzlich das alles für sie war. Auch wenn selbst Andy nicht die ganze Geschichte kannte.
Das Verhalten von Darias Klasse bestätigte sie in ihren Selbstzweifeln. Keiner schien zu wissen, was er sagen sollte. Waren sie wütend, weil sie so plötzlich gegangen war, oder einfach nur enttäuscht? Die meisten dachten vermutlich, ihr Weggang sei eine Reaktion auf die Kündigung ihres Verlobten Pete, und Daria ließ sie gern in diesem Irrglauben. Es war einfacher, als ihnen die Wahrheit zu sagen. Nur die Wenigen, die sie schon seit Jahren kannten, erkannten einen Zusammenhang zwischen ihrer Kündigung und dem Flugzeugabsturz. Doch selbst sie konnten sich keinen Reim auf ihr Verhalten machen. Nach zehn Jahren als freiwillige Rettungsassistentin mit dem Ruf als “Heldin der Stadt”, die über außergewöhnliche Fähigkeiten verfügt und Nerven aus Stahl hat, war es unbegreiflich, dass
ein
fehlgeschlagener Rettungsversuch eine Daria Cato dermaßen aus der Bahn werfen konnte.
Als Daria an jenem Abend vor der Klasse stand, konnte sie ihnen ihr Misstrauen nicht verübeln. Immerhin brachte sie ihnen bei, Aufgaben auszuüben, die sie selbst nicht mehr erfüllen
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