Sommerkind
wollte. Sie fragte sich, ob sie überhaupt noch das Recht hatte, als Dozentin zu arbeiten. Nach dem Unterricht wurde ihr auf dem Weg zum Auto schmerzlich bewusst, dass ihr niemand folgte. Niemand, der noch eine Frage hatte; keiner, der noch ein wenig mit ihr plaudern wollte. Sie blieben allesamt im Klassenraum zurück, vermutlich in Erwartung darauf, endlich ungestört über sie reden zu können.
Es war kurz nach acht, als sie sich auf den Heimweg machte. Obwohl es mitten in der Woche war und die Saison gerade erst begann, herrschte auf der Hauptstraße wegen der Touristen schon dichter Verkehr. Sie wusste, was das bedeutete: Unfälle, Herzinfarkte, Beinah-Ertrinkende. Ihr schauderte, und sie war froh, keine Sanitäterin mehr zu sein.
Sie bog in die Einfahrt des Sea Shanty ein und parkte hinter Chloes Wagen. Wie schon die ganze Woche über standen auch an diesem Abend alle Einfahrten in der Sackgasse voll. Beim Anblick der Autos sehnte sich Daria plötzlich nach den einsamen Wintermonaten, in denen sie und Shelly die Straße ganz für sich allein hatten. Seit zehn Jahren lebten sie ganzjährig in Kill Devil Hills, und normalerweise freute Daria sich auf den Sommer, wenn die Sackgasse zum Leben erwachte. Aber dieses Jahr gab es zu viel zu erklären. “Wo ist Pete?”, würde jeder wissen wollen, und: “Warum arbeitest du nicht mehr bei der Rettung?” Sie hatte keine Lust mehr, diese Fragen zu beantworten.
Chloe saß in einem Schaukelstuhl auf der Veranda und las im Licht der Terrassenlampe ein Buch. “Ich habe einen Eiskuchen im Gefrierfach”, sagte sie. “Jetzt fehlt nur noch Shelly.”
“Wo ist sie denn?”
“Unten am Strand, wo sonst? Sie ist schon seit Stunden da draußen.”
Daria setzte sich in den anderen Schaukelstuhl. “Ich finde es nicht gut, wenn sie im Dunkeln an den Strand geht”, überlegte sie laut.
“Schwesterchen, sie ist zweiundzwanzig Jahre alt”, meinte Chloe.
Chloe verstand das nicht. Sie verbrachte nur die Sommermonate mit ihnen, wenn sie an der St.-Esther's-Kirche das Ferienprogramm für Kinder leitete. Sie war zu selten mit Shelly zusammen, als dass sie hätte wissen können, wie schlecht es um das Urteilsvermögen der jungen Frau bestellt war. Sie könnte irgendeinen Fremden am Strand aufgabeln, oder irgendein Fremder könnte sie aufgabeln. Das war alles schon vorgekommen.
Daria rubbelte über einen Fleck auf ihren kakifarbenen Shorts. Bei der Montage der Arbeitsplatte hatte es sich dort ein Klecks Klebstoff bequem gemacht. Schon wieder ein Paar Shorts im Eimer. Sie musste geseufzt haben, denn als sie aufsah, blickte sie direkt in Chloes Augen. Der raspelkurze Haarschnitt, den Chloe diesen Sommer zur Schau trug, ließ ihre braunen Rehaugen noch größer wirken und ihre dunklen samtigen Wimpern noch länger. Für einen Augenblick war Daria von der Schönheit ihrer Schwester wie hypnotisiert.
“Ich mache mir Sorgen um dich, Daria”, sagte Chloe.
“Warum?”
“Du machst so einen traurigen Eindruck. Ich glaube, ich habe dich noch nicht ein Mal lächeln gesehen, seit ich hier bin.”
Daria war nicht bewusst gewesen, dass ihre Traurigkeit so offensichtlich zutage trat. “Tut mir leid”, entschuldigte sie sich.
“Das muss es nicht. Ich wünschte nur, ich könnte irgendetwas für dich tun. Offen gesagt: Ich verstehe Pete einfach nicht. Ruft er dich manchmal an?”
Daria streckte die Arme vor sich aus. “Er hat mich schon mehrfach angerufen, aber es ist endgültig aus.” Pete hatte erleichtert geklungen, nicht mehr bei ihr zu sein, und sie in ihren wenigen Telefonaten ermahnt, doch endlich einmal zuerst an sich zu denken. Es tat weh, von ihm zu hören, und während sich ein Teil von ihr nach seinem Anruf sehnte, war ihr doch klar, dass eine Fortsetzung der Beziehung sie auf lange Sicht nur verletzen würde.
“Verrätst du mir, warum er die Verlobung gelöst hat?”, fragte Chloe vorsichtig. Bislang hatte sie diese Frage vermieden, in der Hoffnung, Daria würde von sich aus darüber sprechen.
“Ach, es gibt einen Haufen Gründe”, wich Daria aus. “Shelly ist einer davon.” In Wirklichkeit war Shelly der einzige Grund.
“Shelly? Was hat sie denn damit zu tun?”
Daria zog die Knie an und schlang ihre Arme um die Beine. “Er war der Ansicht, ich hätte sie nicht ausreichend unter Kontrolle. Er fand, ich sollte sie in so eine Art Heim stecken.”
Chloe gingen vor Staunen die Augen über. “Das ist verrückt”, sagte sie. Sie beugte sich zu Daria hinüber
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