Sommerlicht Bd. 2 Gegen die Finsternis
schon häufig zusammengesteckt hatten, war das nicht weiter ungewöhnlich; das Seltsame war nur, dass Ashlyn gleichzeitig eine sehr intensive Beziehung mit jemand anderem eingegangen war, mit Keenan. Aber irgendwie schienen beide Jungs keine Probleme damit zu haben.
Keenan und sein Onkel Niall, die Ashlyn zur Schule begleitet hatten, standen auf der anderen Straßenseite und beobachteten sie, während sie zu Leslie aufschloss. Sie wirkten überaus ernst, rührten sich nicht von der Stelle, und schienen die vielen Leute, die sie angafften, als gehörten sie in den Zoo der Lebenden Zombies, überhaupt nicht wahrzunehmen. Leslie fragte sich, ob Niall vielleicht ein Instrument spielte. Er hatte mehr Sexappeal als die anderen Zombies. Wenn er Musik machte und vielleicht auch noch sang … dann war er bei seinem Aussehen bestimmt schon auf dem besten Weg zum Erfolg. Ihn umgab stets so eine Aura des Mysteriösen; außerdem war er ein paar Jahre älter als Leslie und Ashlyn – vielleicht ging er schon aufs College. Und dann kam auch noch sein merkwürdiger Verantwortungsfimmel hinzu, den sie ziemlich sexy fand. Er war ein Vormund von Keenan und trotz seiner Jugend ein Onkel von ihm; auf sie wirkte er einfach perfekt. Schon wieder starrte sie ihn an.
Als er lächelte und herüberwinkte, musste Leslie sich zusammenreißen, um nicht zu ihm hinzugehen. So war es immer, wenn er sie ansah: Sie verspürte so einen irrationalen Drang, zu ihm hinzulaufen; als wäre da eine Spannung in ihr, von der nur er sie erlösen konnte. Aber sie tat es nicht. Sie machte sich doch nicht wegen eines Typen lächerlich, der bis jetzt nicht mal echtes Interesse an ihr gezeigt hatte. Vielleicht tat er es ja noch. Bislang waren sie ausschließlich unter den wachsamen Blicken von Keenan und Ashlyn zusammengetroffen, und auch dann fand Ashlyn regelmäßig fadenscheinige Vorwände, um sie von Niall fernzuhalten.
Ashlyn legte ihre Hand auf Leslies Arm. »Komm.«
Also entfernten sie sich von Niall, wie so oft.
Leslie richtete ihre Aufmerksamkeit jetzt ganz auf Ashlyn. »Wow! Rianne hat schon erzählt, dass du wahnsinnig braun geworden bist, aber ich hab’s ihr nicht geglaubt.«
Ashlyns eigentlich blasse Haut war so perfekt gebräunt, als lebte sie direkt am Strand. Sie war ebenso braun wie Keenan; am Freitag war das noch nicht so gewesen. Ashlyn biss sich auf die Unterlippe – eine nervöse Angewohnheit, die normalerweise signalisierte, dass sie sich in die Enge getrieben fühlte. »Ich hab Probleme mit der Jahreszeit – eine Art Winterdepression. Darum musste ich ein bisschen Sonne tanken.«
»Aha.« Leslie versuchte vergeblich, sich ihre Zweifel nicht anmerken zu lassen. Ashlyn wirkte überhaupt nicht deprimiert – und in letzter Zeit hatte sie eigentlich auch nicht den geringsten Grund dazu. Sie schien plötzlich Geld und Aufmerksamkeit in Hülle und Fülle zu bekommen. Leslie hatte sie schon mehrmals getroffen, wenn sie mit Keenan unterwegs war; die beiden hatten zueinander passende gedrehte Goldkettchen um den Hals getragen. Und dann die Klamotten, die Ashlyn trug, die neuen Wintermäntel, die Chauffeure und – nicht zu vergessen – die Tatsache, dass Seth gegen all das nichts einzuwenden zu haben schien. Depressiv? Ja, sicher.
»Hast du den Text für Literatur gelesen?« Ashlyn zog die Tür auf und sie mischten sich unter den Pulk von Schülern auf dem Gang.
»Wir waren außerhalb der Stadt zum Dinner eingeladen, deshalb hab ich’s nicht ganz geschafft.« Leslie verdrehte übertrieben die Augen. »Ren hat sich sogar richtig in Schale geschmissen.«
Sie wichen beide fortwährend den Themen aus, die ihnen unangenehm waren. Leslie log wie gedruckt, und Ashlyn schien das Gespräch krampfhaft auf unverfängliche Themen lenken zu wollen. Schließlich warf sie einen Blick über Leslies Schulter – als stünde dort jemand – und wechselte erneut abrupt das Thema. »Arbeitest du noch im Verlaine?«
Leslie schaute sich um: Da war niemand. »Ja, klar. Mein Vater ist stinkwütend, dass ich ausgerechnet kellnern gehe, aber es ist eine prima Ausrede, wenn ich abends spät noch unterwegs bin.«
Leslie gab weder zu, dass sie arbeiten musste, noch, dass ihr Vater nicht die geringste Ahnung hatte, womit sie ihr Geld verdiente. Sie wusste nicht mal, ob ihr Vater überhaupt mitbekam, dass sie einen Job hatte oder dass sie die meisten Rechnungen bezahlte. Vielleicht glaubte er sogar, Ren würde sie begleichen, obwohl er bestimmt noch
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