Sommernachtszauber (German Edition)
wirklich? Ich werde es nie müde, dich zu entdecken …
Wie viele von ihm gab es? Das wusste er selbst nicht. Aber schließlich hatte er sein Leben lang Zeit, es herauszufinden und mit ihr gemeinsam auszuloten.
»Nein …«
Sie legte beide Hände um sein Gesicht und sah ihn ernst an. »Versprich mir, dass das hier … dass wir niemals ein Spiel für dich sein werden.«
»Nie«, flüsterte er. »Nie. Du bist heiliger Ernst.«
Sie schluckte sichtbar. »Etwas anderes könnte ich nicht ertragen. Ich würde erst dich töten und dann mich …«
Judith konnte so extrem sein! Er schob sie sanft von sich. »Geh jetzt. Einen leeren Balkon kann ich nicht anhimmeln.«
»Erst musst du dich mit meiner Familie auf dem Marktplatz prügeln, Romeo, mein Romeo!« Sie drehte eine Pirouette zur Tür und ihr weiter, bunter Rock flog dabei. Erst jetzt fiel Johannes auf, dass die Tür noch offen stand und dass sich auch die Garderobenhilfe noch im Raum herumdrückte.
»Was gibt’s denn noch? Sie bekommen das Autogramm meiner Mutter schon, keine Sorge«, sagte er.
Judith zog die Augenbrauen hoch. Sie mochte es nicht, wenn er unhöflich war.
Das Mädchen errötete. »Das ist es nicht … Ihr Onkel wartet draußen. Fräulein Goldmann hat SS Brigadeführer Steiner nur den Vortritt genommen.«
»Onkel Georg ist hier?« Er sah Judith erstaunt an. Georg, der früher bei Familienfeiern alle mit seinem Geschwafel von der Welteroberung durch seine dumpfbackigen Kumpane zu Tode gelangweilt hatte. Leider hatte die Erfüllung seiner Weissagung ihn weder sympathischer noch unterhaltsamer gemacht. Im Gegenteil, er schnarrte noch immer denselben Unsinn vor sich hin, wie eine in der Schallplatte hängen gebliebene Grammofonnadel. Denselben Unsinn , nur dass das niemand mehr laut so nannte, selbst in der Familie nicht.
»Allerdings. Der liebe Onkel Georg! Ich wusste gar nicht, dass hier heute Vorsprechen für die Rolle des Mephisto ist«, sagte Judith spitz, doch Johannes legte ihr rasch die Hand vor den Mund. Sie küsste übermütig seine Fingerspitzen und biss ihn in eine Kuppe, ehe sie flüsterte: »Mach dir keine Sorgen. Du wirst ein ganz Großer. Und ich helfe dir, wo ich kann.«
Johannes wurde warm in seinem Innern. Wie konnte er nur solches Glück haben?
Ein Räuspern klang von der Tür her und Judith und er sahen auf. Unwillkürlich ließ Johannes sie los. Sein Onkel, der SS Brigadeführer Georg Steiner, füllte den kleinen Raum mit seiner hochgewachsenen Statur aus. Seine pechschwarze Uniform saß tadellos, auf dem Arm leuchtete die Hakenkreuzbinde und seine ebenfalls schwarzen Lederstiefel waren auf Hochglanz poliert. Der liebe Onkel Georg , dachte Johannes mutlos und trat einen Schritt zurück – weg von Judith.
Johannes hielt ganz still. Romeo hatte gerade Gift getrunken. Das Stück war beinahe zu Ende und alles hatte wunderbar geklappt. Judith und er hatten schon in der ersten gemeinsamen Szene das Publikum vollkommen in der Hand gehabt. Die Spannung und das Sehnen wuchsen aus dem Zuschauerraum zu ihm hoch auf die Bühne, wo er auf einem mit grauen Leintüchern verhängten Tisch lag. Um ihn herum war es dunkel, denn die letzte Szene spielte in der Familiengruft der Capulets: Nur ein einzelner, kalter Strahl Licht suchte und fand ihn und Judith, die als Julia noch immer totengleich auf dem Boden neben ihm schlief.
Der Rausch des Spiels wich von ihm und ließ ihn erschöpft zurück. Er fühlte sich wie gekaut und wieder ausgespuckt. Gerade hatte er auf der Bühne noch alles gegeben, aber nun musste er sich der Wirklichkeit stellen und hatte doch keine Kraft dazu. Eben noch war jedes Wort wie aus ihm selbst gekommen. Shakespeare sagte nichts anderes als das, was er selbst für Judith fühlte, und das Stück hatte sie wie eine Welle getragen. Jetzt aber tauchte er in das dunkle Schweigen ein, das um ihn herrschte. Es schlug über ihm zusammen und er war mit sich allein. Mit sich und den Worten, die Georg und er gesprochen hatten.
Jeder Atemzug schmerzte ihn. Wie sollte er mit Judith darüber sprechen? Was würde sie sagen? Würde sie ihn und seinen Entschluss verstehen? Ihn fröstelte.
Johannes blinzelte unter seinen Wimpern hervor, um Judith zu sehen. Sie lag seitlich neben ihm und in dem beinahe weißen Licht war sie totenblass. Ihre langen Wimpern warfen Schatten auf ihre Wangen. Die blonden Locken ihrer Perücke flossen über den Boden. Flacher Atem hob und senkte ihre Brust in der blassroten eng geschnürten Korsage.
Weitere Kostenlose Bücher