Sommernachtszauber (German Edition)
Johannes beherrschte sich nur mit Mühe, um nicht von dem Tisch zu springen und sie an sich zu reißen.
Die Erinnerung an seinen Onkel hielt ihn zurück: Welche dunkle Macht war da in sein Leben gebrochen und nahm ihm den freien Willen? Wie würde Judith mit dem umgehen, was er ihr zu sagen hatte? Er schluckte und es schmeckte nach Schmerz. Dann schloss er seine Finger fester um die kleine Phiole, aus der er eben »Gift« getrunken hatte.
Alles in ihm wurde schwer, und die Gedanken zogen ihn nach unten in eine bodenlose schwarze Tiefe, wie nasse Kleider einen Ertrinkenden. Sein Herz schlug mühsam und so laut, dass es die Zuschauer hören mussten. Aber nein. Sie waren noch in dem Spiel gefangen, ohne zu ahnen, dass es eine viel größere und tragischere Wahrheit gab, die sich direkt vor ihren Augen abspielte. Der Schein blendete sie für die Realität. Tränen stiegen in seiner Kehle auf und er musste würgen. Es war umsonst: Sie sammelten sich unter seinen geschlossenen Lidern.
Er beherrschte sich mit aller Kraft und ballte die Faust um die Phiole. Er liebte Judith. Angst gesellte sich zu seiner Verzweiflung. Sie beide liebten ihren Beruf und sie beide liebten Berlin. Hier gehörten sie hin, zusammen, und nicht anders. Niemals!
Judith regte sich nun. Ihre Bewegung riss Johannes aus seinen Gedanken. Er musste durchhalten. Sie mussten erst das Spiel zu Ende bringen, dann konnte er mit ihr reden. Ihre klare Stimme drang wie aus weiter Ferne an sein Ohr, und ihre Finger waren klamm, als sie ihm die Phiole aus der Hand nahm und ihn dabei berührte.
Im Publikum herrschte atemlose Stille, als sie die Flasche an die Lippen setzte.
»Gift, seh’ ich, war
sein Ende vor der Zeit. Oh Böser! Alles
zu trinken, keinen güt’gen Tropfen mir
zu gönnen, der mich zu dir brächt?«
Sie warf die Phiole angewidert zu Boden, wie sie es Hunderte von Malen geprobt hatten. Mit einem einzigen Schritt war sie dann bei seinem Kopf angelangt und legte ihre Hände auf seine Wangen.
Johannes schloss die Augen wieder fest. Ihre langen schlanken Finger waren kühl auf seiner Haut. Er konnte es nicht ertragen, sie anzusehen. Das ging über seine Kraft.
Seine schöne, impulsive und stolze Judith. Sie war es gewohnt zu bekommen, was sie wollte. Bei dem, was er ihr gleich sagen musste, könnte er ihr ebenso gut einen Dolch in ihr Herz stoßen. Sie neigte den Kopf. Ihr Atem war heiß auf seiner Haut, als sie flüsterte:
»Ich will dir deine Lippen küssen. Ach, vielleicht
hängt noch ein wenig Gift daran und lässt mich
an einer Labung sterben.«
Ihre Lippen verschmolzen mit den seinen. Es schmeckte nach allem, was schön, gut und besonders war auf dieser Welt. Johannes wollte sie an sich ziehen, sie halten und nie wieder loslassen. Doch er blieb weiterhin ganz still. Es musste sein. Es musste!
» Deine Lippen sind warm «, sagte Judith und in dem dunklen gesichtslosen Publikum rangen einige Frauen nach Atem. Hatte nicht jeder dort unten schon für die Liebe gelitten?
Johannes blinzelte hinter seinen Wimpern hervor. Er musste sie doch wieder ansehen. Judith und ihr Spiel, bei dem sie sich mit jeder Faser ihres Wesens einsetzte. Sie war wie eine blasse Flamme, und ihre Augen brannten, als sie nun auffuhr. Der Grabwächter betrat polternd die Bühne und sie reckte den langen grazilen Hals. » Wie? Lärm – dann schnell nur. «
Johannes sah Judith durch seine fast geschlossenen Lider ein Messer aus ihrem Gewand ziehen. Weshalb nahm sie ihm denn nicht den Theaterdolch mit der Schiebe-Klinge von seinem Gürtel?
Doch ehe er weiter darüber nachdenken konnte, hob Judith das lange, scharf blitzende Messer in die Luft. Das kalte, einsame Licht des einen Scheinwerfers brach sich auf seiner Schneide.
Ein kollektives Raunen ging durch die Reihen im Zuschauerraum und alles hielt den Atem an. Jeder wusste, was geschehen würde, und doch konnte sich niemand der Tragik der Worte und der Gesten entziehen. Julia, die Selbstmord beging und sich das Messer ins Herz stoßen sollte.
Eine Frau schluchzte auf, als Judith seufzte:
»Oh, willkommener Dolch! Dies werde deine Scheide.«
Sie stieß Johannes das Messer tief in den Bauch.
Johannes hörte einen Schrei. War er das gewesen?
»Was macht sie denn? Das ist doch falsch!« Nein, es klang nach seiner Mutter.
»Ruhe! Pst! Hinsetzen …!«, forderten andere Leute scharf.
»Nein! Das ist echt! Die spielt nicht! Mein Sohn!«, kreischte seine Mutter nun. »Sie hat meinen Sohn erstochen! Er verblutet
Weitere Kostenlose Bücher